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Auroville – ein alternatives Lebensmodell und mehr als ein Dorf für Hippies und Freigeister

Auroville möchte eine universelle Stadt sein, in der Männer und Frauen aller Länder in Frieden und fortschreitender Harmonie leben können, jenseits aller Bekenntnisse, politischer Überzeugung und nationaler Herkunft. Aurovilles Aufgabe besteht darin, die wahre menschliche Einheit zu verwirklichen.

Mira Alfassa, Gründerin Aurovilles

Im Netz kursieren die wildesten Vorurteile von Sekte bis Kommune, in der die Halbnackten mit Blumenketten auf Gitarren klimpern. Denn neugierig wie wir sind, wollen wir uns selbst ein Bild von der sogenannten Stadt der Zukunftmachen. Rolf und ich sind weder esoterisch noch religiös, dafür offen für Neues. Immerhin haben wir acht Tage Zeit für Auroville. Bei meiner Schwester, Saskia,  die bereits zweimal in Auroville war, sind wir in guten Händen, denn sie weiß wie und wo wir beginnen können. 

Als erstes organisieren wir uns eine schöne Unterkunft am nicht so schönen Strand. Hauptsache Wind, denn es ist weiterhin heiß und feucht. Strände in Tamil Nadu laden weniger zum Verweilen ein, da sie erstens von Fischern und deren Booten und zweitens von der lokalen Bevölkerung als Toilette und Müllplatz genutzt werden. Mit unserem Taxifahrern durchforsten wir die Unterkünfte am Meer. Obwohl das Samarpan Guesthouse mit 3000 IR (39€) etwas über unserem Budget liegt, überwiegen die Vorteile so schwer, dass wir bleiben. 

Auch wenn es unser Budget sprengt – wir lassen es uns gut gehen …

Der italienische Besitzer hat hier eine für diese Gegend schön gestaltete mediterrane Anlage mit einem gepflegten Garten und Pool geschaffen. Um in das ca. 5 km entfernte und weitläufige Auroville zu kommen, leihen wir uns für die nächsten Tage vier Roller. Weil Auroville bargeldlos funktioniert, braucht auch jeder eine Auro-Card, die man im Guesthouse gegen eine Kaution von 500 IR bekommt. Diese müssen nur noch in Auroville  aufgeladen werden. Komisch oder? Bargeldloses Auroville und dennoch eine Geldkarte! Also jetzt aber endlich los. Helme auf die schwitzigen Köpfe und los geht’s. Vier Scooter hintereinander auf staubigen und buckligen Wegen in Richtung Hauptstraße, die mit ihrem tosenden und chaotische Verkehrsgewühle auf unsere erste Überquerung wartet. Denn gegenüber führt die Straße direkt nach Auroville. Wie sollen wir nur zu Viert hier rüberkommen? Schweiß rinnt unter dem Helm hervor. Ich schaue rechts, links, rechts links… jetzt rüber… ach nein… das reicht nicht… puh, wie anstrengend ist das denn! Rolf ist da durchsetzungsfähiger … 

Die eigentlichen Könige der Straße, die viel zu schnellen Busse und LKWs, lassen wir vorbeiziehen. Jede noch so kleine Lücke bietet einem von uns die Chance rüberzufahren. Endlich drüben, geht’s weiter voran immer schön im Fahrtwind kühlen. Das tut gut. 

Das Finanzcenter zu finden stellt sich uns als nächste Aufgabe. Keine Schilder, dafür kopfwackelnde Inder, die niemals zugeben würden, dass sie den Weg auch nicht wissen. Meine Schwester, die mit Mama Google nicht so eng verbunden ist, fährt nach Gefühl vorneweg. Komisch, sie kann sich doch nicht mehr so genau erinnern, wie gedacht. So wenden wir das ein oder andere Mal. Rolf schüttelt genervt den Kopf. „Eve, mach du die Navigation!“, höre ich ihn hinter mir. Während wir mit unseren Rollern über staubige, rote Pisten cruisen, begegnen und überholen uns permanent grauhaarige westliche Frauen wie Männer zwischen 50 und 70 Jahren. Sie scheinen zu den Pionieren von Auroville zu gehören, die hier vor 50 Jahren auf trockener roter Erde die ersten Bäume gepflanzt haben. Bis auf die German Bakery, die Pizzeria Tanto, das Café Bread &Chocolate und einigen Europäern auf E-Bikes sieht alles so aus wie sonst, nur mit weniger Müll. An der Rechtskurve hilft uns zur Orientierung der Shiva-Tempel mit ohrenbetäubender Musik. Nach dem Dorf Kuillapalayam säumen Bäume die Straßen wie eine Allee. Es wird immer grüner und dichter, die Luft immer frischer. Der Wind kühlt uns etwas ab. Der Verkehr ist bis auf ein paar gelbe Schulbusse und Lastwagen eher ruhig, so dass das Scooter fahren entspannt ist.

Unser Hunger treibt uns über rote Schotterpisten zur größten Gemeinschaftskantine von Auroville, Solar Kitchen.Hier stärken wir uns nach dem Aufladen der Karten mit gesundem Bio-Essen. Natürlich vegetarisch, natürlich leise – manche Tische sind mit einem Silence-Schild ausgestattet, natürlich selbst spülen. Rolf stochert etwas in seinem Gemüse herum. Es schmeckt ihm bedingt. Täglich werden hier über 1000 Mahlzeiten für die Schulen und andere Kantinen in Auroville vorbereitet. 

Im Visitor Center informieren wir uns anhand der Ausstellung und eines fortlaufenden Films über die Geschichte und die Philosophie Aurovilles. Uns wird klar, dass du viel Zeit und Mühe brauchst, um Auroville wirklich kennen zu lernen, sich das Konzept, die Idee, die Angebote und Möglichkeiten zu erarbeiten. 

Das kulturelle Angebot ist so vielfältig, dass es uns fast überfordert. Dutzende Workshops in den unterschiedlichsten Yoga-Stilen, Meditation, Ayurveda, Massagen, Feldenkrais, Hypnose, Kunst, Kino, Gärtnern, Astrologie, Om Chor, Fitness, Coaching, Tanzen, Sound-Baden oder ein Sound-Garten, Akupunktur, Capoeira, Kampfsport, Pranayama und einige Angebote zum Thema Alternative Energien und ökologische Landwirtschaft. Entweder suchst du auf der Homepage oder blätterst in dem Ordner im Visitor Center. Wegen der Hitze finden die meisten Veranstaltungen früh morgens oder am späten Nachmittag statt. 

Sound-Baden

Wir probieren das Sound-Badenan einem Abend. In der Mitte eines großen schönen Raumes liegen unzählige Musik- und Klanginstrumente. Matten mit Kissen liegen im Kreis bereit. Leise treten ca. 40-50 Interessierte ein und suchen sich ein Plätzchen. Während wir mit geschlossenen Augen auf den Matten liegen, lauschen wir den Klängen, die aus unterschiedlichen Richtungen kommend, eine Geschichte erzählen. Laut und leise, hell und dunkel, tief und hoch, wie Vögel, wie Gewitter, wie Frühling, wie Abend … Eine Stunde Klanggeschichte, eine Stunde verzaubern lassen vom Genusshören. 

Watsu – Wasser – Shiatsu

Was ist wohl Watsu, frage ich meine Schwester, als sie mir vorschlägt, einen Termin dafür zu vereinbaren.. Begeistert erzählt sie mir von ihren Erlebnissen, als sie das letzte Mal hier war. Na dann ist das auch etwas für mich. Das sollte ich mir doch nicht entgehen lassen. Im Internet lese ich, dass Watsu auf den Lehren des Zen-Shiatsu beruht. Die physikalischen Eigenschaften des Wassers werden dazu genutzt, den durch den statischen Auftrieb von der Schwerkraft entlasteten Körper passiv zu dehnen und zu strecken.  

Unsere Männer zeigen weniger Interesse an Watsu, folglich fahren wir ins Quiet-Healingcenter.  Watsu ist ziemlich gefragt. Doch an unserem letzten Tag in Auroville sollen wir doch noch in den Genuss dieser außergewöhnlichen Erfahrung kommen. Mit Schwimmsachen bepackt stehen wir um 12 Uhr auf der Matte. Vor der Therapie bekommt jeder von uns ein ausführliches Briefing von seinem Therapeuten über die bevorstehende Behandlung, z.B. welches Zeichen er uns gibt, wenn er uns ganz untertaucht. Zu diesem Zweck hat er eine Nasenklammer dabei, die er uns später in die Hand drückt. 

In 35 Grad warmen Wasser bekomme ich mit Auftriebskörpern an den Fußgelenken ein erstes Gefühl dafür, dass meine Füße nach oben wollen. Mein Therapeut, Pascal, steht im brusttiefen Wasser und hält mich unter den Armen fest. Ich soll die Augen schließen und nichts tun. Er bringt mich in die Rückenlage und trägt mich mich durch das Wasser. Indem er meine Beine anwinkelt, mich zur Seite dreht, die Arme nach oben und hinten durch zieht, dehnt er meine Beine, meine Taille, meine Arme, den Rücken, den Hals … alles ganz langsam. Ich selbst darf nichts aktives tun. Ich verlasse mich komplett auf ihn. Er zieht mich durch das Wasser, wobei ich die Strömung des Wassers spüre. Das Wasser streichelt meine Haut großflächig. Hui, ist das ein berauschendes Gefühl! Unter Wasser erklingt sanfte Musik. Ein vorgeburtliches Gefühl macht sich breit, als er mich in die Babystellung bringt und festhält. Die Beine über seinem Arm, mein Kopf an seiner Brust umschließt er mit dem anderen Arm meinen Oberkörper, zieht mich sanft durch das Wasser. So muss es im Mutterleib gewesen sein. Wow … wie wunderbar! Noch nie habe ich mich so geborgen gefühlt.Als er mir das Zeichen zum Untertauchen gibt, befestige ich die Nasenklammer. Ich hole tief Luft, er drückt mich tiefer nach unten, dreht mich zur Seite, zieht mich an einem Arm und einem Bein durch das Wasser und holt mich auch wieder nach oben. Ich atme aus… wow… so dunkel da unten, so ruhig und schwerelos… vielleicht fühlt sich so der Tod an… gar nicht so übel… das kann ja noch ganz nett werden.Immer wieder taucht er mich in verschiedenen Positionen unter, nie zu lange, nie unangenehm. Ich vertraue ihm total. Wie ein Wal gleite ich schwerelos dahin, tauche mal auf, um dann wieder im Dunkeln zu verschwinden. Nach einer Stunde entspanntes Dahingleiten in Schwerelosigkeit, komme ich mir beim Hinausgehen wie ein tonnenschwerer Elefant vor. Was für ein grandioses Erlebnis!  

Kleine Entstehungsgeschichte von Auroville 

Die Französin, Mira Alfassa, auch The Mother genannt, kam 1914 nach Pondicherry. Sie verwirklichte Sri Aurobindos Gesellschaftstheorie einer universellen Stadt. Sri Aurobindo (1872-1950), der von seiner Familie mit sieben Jahren nach England geschickt und dort in Englisch, Latein und Griechisch, in Geschichte, Geographie, Arithmetik und Französisch ausgebildet wurde, setzte sich nach seiner Rückkehr mit alternativen Lebensformen auseinander. Er forderte die vollständige Unabhängigkeit Indiens. Während er sich politisch weiter engagierte, wandte er sich verstärkt dem Studium der indischen Yoga-Lehren und Übungen zu. Sri Aurobindo, der Freiheitskämpfer, Poet und Guru entwickelte eine neue Lebensform, die er selbst als Integrales Yoga bezeichnete – Integral = umfassend; Yoga = Bewusstseinsentwicklung im Sinne einer modernen, zukunftsweisenden, umfassenden Bewusstseinsentwicklung. In Pondicherry gründete er einen Ashram, dessen verantwortliche Leitung er Mirra Alfassa, die er mit der Göttlichen Mutter identifizierte, vollständig übertrug, um sich zurückzuziehen. The Mother, Mira Alfassa setzte die Theorien des Philosophen Sri Aurobindo um. Sie war seine rechte Hand. Sri Aurobindo lebte bis zu seinem Tod 1950 zurückgezogen in seinem Haus und verfasste seine Philosophie in Büchern und Schriften. Bemerkenswert ist, dass die Beiden die Unterstützung vom indischen Staat und einer UNESCO Resolution bei der Umsetzung bekommen haben. Das war der Startschuss für das Projekt Auroville, die Stadt der Morgenröte. 

Auf dem Weg nach Auroville wird deutlich, dass Auroville keine dicht besiedelte Stadt ist, sondern aus über 100 Communities, die weit verstreut und zum Teil versteckt in den Wäldern liegen, besteht. Diese Wälder und Felder sind das Resultat unermüdlicher Pflanz-und Farmarbeiter, der ersten Pioniere vor 50 Jahren, denn das gesamte Land war abgeholzt, trocken, karg und rissig. Der Wind wehte vom Meer die braune Erde in die Gesichter der Pioniere. Dieser Wald ist heute die grüne Lunge, die für reichlich Sauerstoff und kühle Luft in dieser tropischen Hitze sorgt. Manche Communities zeichnen sich durch futuristische Architektur, andere durch einfache Hütten aus Holz oder einfachen mehrstöckigen Häusern. Die Communities verfolgen unterschiedliche Lebensmodelle und Schwerpunkte wie z.B. Kunstprodukte, Musik, Ökologischer Anbau etc. Jeder kann sich seine passende Community suchen und dort leben. Eigentum gibt es nicht. Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung gibt es dagegen zu Genüge. Das Sport-und Kulturangebot für die Aurovillianer und deren Kinder ist immens und kostenlos. Das beeindruckt uns sehr! Neben einem schönen Schwimmbad, in dem Eltern beim Babyschwimmen ihre Kleinsten ans Wasser gewöhnen,  befinden sich Tennisplätze und ein überdachter Basketballplatz. 

Auroville ist kein Ponyhof, kein Bildungsurlaub, keine Hippie-Kommune und keine Sekte. Auroville ist ein alternativer Lebensentwurf zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen internationaler Gemeinschaft und Individualität. Ohne Bürgermeister, Politiker, Autoritäten und Religion leben hier fast 3000 Aurovillianer in einer spirituellen und ökologisch-bewussten Gemeinschaft.

Auroville – ein Raum zum Experimentieren

Dass Auroville ein guter Ort zum Leben ist, ist uns nach den ersten Tagen bereits deutlich geworden. Ohne Polizei und Kriminalität, ohne Neid und Konkurrenz lebt man hier friedlich zusammen. Allein das kostenlose Kultur-und Sportangebot, das gesunde und frische Essen aus ökologischen Anbau, die E-Bike und E-Busse, die kostenlosen Kindergärten und Schulen, die Idee der Nachhaltigkeit usw. machen das Leben hier lebenswert. Die experimentierfreudigen Aurovillianer entwickeln alternative Energien (Biogas-, Solar- und Windenergie) und Ideen für ein nachhaltiges Leben. Sie betreiben ihre Landwirtschaft ökologisch. Sie backen Pizza oder Kuchen, stellen Mozzarella und anderen Käse her. Die Produkte, die in Auroville produziert werden, können nicht nur in Auroville, sondern auch in den umliegenden Supermärkten gekauft werden. Eingekauft wird hier übrigens unverpackt. Ganz modern und selbstverständlich! Jeder bringt sich für das Gemeinwohl mit ein, ganz im Sinne der Gründer.

Aurovillianer können ohne einengende Normen und Verbote ihre vielfältigen kreativen Fähigkeiten überall einbringen. Vieles ist möglich … einfach mal anfangen! Auroville ist ein Projekt, in dem ständig  Neues ausprobiert wird, ein Prozess, dessen Ende offen ist. Dazu gehören Fehler, Scheitern, Frustrationen und Neubeginn. Diese positiven Fehlerkultur, an der es in Deutschland mangelt, ist der Motor für Fortschritt und Kreativität. Auroville wird auch als Stadt der Zukunft bezeichnet, als Vision einer neuen Welt, in der neue Lebenskonzepte erforscht und erprobt werden. Besuchergruppen aus der ganzen Welt, Studenten der Architektur, der Agrarwissenschaft, der Pädagogik usw. besuchen und lernen in Auroville.  

Viele, wie beispielsweise unser Guide, nehmen in Chennai ein Studium auf und kehren anschließend wieder zurück nach Auroville, um hier zu arbeiten. Ein Leben außerhalb von Auroville scheint unvorstellbar. Apropos Arbeit… in Auroville arbeitet man maximal 5-6 Stunden pro Tag. Was jeder arbeitet, mit welchen Ressourcen er sich einbringt, entscheidet jeder Aurovillianer für sich. Jeder erhält ein Grundeinkommen von ca. 150€, wovon er die Hälfte in Auroville ausgeben muss. Eigentum und Besitz gibt es nicht. Wenn jemand hier ein Haus gebaut und viel Geld investiert hat, hat er zwar ein Wohnrecht, aber kein Eigentum. Manche der selbstständigen Aurovillianer, die beispielsweise Restaurants, Geschäfte, Gästehäuser betreiben, müssen 30% ihrer Einnahmen abgeben. Die Idee eines geldlosen Systems konnte noch nicht in Gänze umgesetzt werden, da Dienstleistungen von außen notwendig sind. Geld kommt schon alleine dadurch in Umlauf, dass jeder Novize sich hier selbst finanzieren muss. 

Matrimandir – das spirituelle Zentrum

Unser Guide, Mister B aus Amerika, der eigentlich Bill heißt, aber das „ill“ irgendwann gestrichen hat, zeigt uns das spirituelle Herz Aurovilles, das Matrimandir, das Meditationszentrum, das von einem stilvoll angelegten Garten in Form einer Galaxie umringt ist. Wiesen, Wege, Beete, Büsche und Wasserläufe sind geometrisch angeordnet. Der Prozess muss Jahrzehnte gedauert haben. Diese goldene Kugel löst unterschiedliche Assoziationen aus … wie ein UFO… wie ein goldenes Ei… thront sie etwas erhoben über diesen grünen Garten. 

Matrimandir – das spirituelle Zentrum von Auroville

Im Inneren erfahren wir mit weißen Socken bestückt, welche Ideen Mira Alfassa mit dem Bau dieser Kuppel umsetzen wollte. Wir wandeln einen spiralförmigen Weg nach oben. Ganz still und leise schreiten wir in dieser Menschenkette andächtig nach oben mit Blick auf den Lichtstrahl aus der Decke, der schnurgerade abwärts strahlt. Oben angekommen wird es kühler. Wir betreten etwas aufgeregt den weißen Meditationsraum. Wir staunen, wie groß und rund er ist. Alles ist weiß, selbst die Meditationskissen auf dem Boden. In der Mitte fesselt eine Glaskugel, die auf einem goldenen Ständer ruht, direkt unsere Aufmerksamkeit, denn das Sonnenlicht, das durch drei Spiegel gebündelt wird, durchdringt aus einer Öffnung in der Decke wie ein Laserstrahl die Glaskugel. Leise nehmen alle nach und nach Platz und versinken in Meditation. Mit Blick auf die durchsichtige Kristallkugel, in der sich das Sonnenlicht und die Wolken von oben spiegeln, meditieren wir ca. 20 Minuten. Wir fühlen uns so klein, angesichts dieses Universums um uns. Dieser weiße runde Raum mit einem Kreis aus zwölf weißen Säulen, die einfach so in die Luft ragen ohne etwas zu tragen, berührt und bewegt. Keine Frage. 

Ein plötzlich auftauchender greller Lichtstrahl, das Zeichen für das Ende der Mediation. Schweigend stehen alle auf und laufen die Spirale wieder andächtig hinunter. Draußen in der Sonne sehen wir, dass das Matrimandir von zwölf Meditiationsräumen umgeben ist, die wie Blütenblätter die Kugel umschließen. Diese runden Räume dienen ebenso der Meditation. Hinter dem Matrimandir in dem Amphitheater, in dem vor einigen Wochen die große Feier zum 50jährigen Jubiläum stattgefunden hat, befindet sich die steinerne Lotusblume, in dessen Inneren haben die ersten Pioniere eine Handvoll Erde aus über 120 Ländern gestreut. In dem Park befindet sich ein riesiger uralter Banyanbaum mit Luftwurzeln, die ihn in der Breite tragen. Ein einziger dicker Stamm und viele Dünnere bilden ein kleines Wäldchen. Wie lange Arme bilden sie eine Art Schirm. Die Äste bilden, wenn sie immer länger werden, diese Luftwurzeln und bilden dadurch eine neuen Stamm. Ein wunderbarer schattiger Platz in diesem Garten. Dieser Baum dient unter anderem als Metapher für die Lehren der Begründer.

Aurovilles Kindergärten, Schulen und weitere Projekte

 Selbstverständlich möchte ich als Berufsschullehrerin, die ErzieherInnen ausbildet, auch einen Kindergarten besuchen. Das dies den Rahmen hier sprengen würde, habe ich meine Erlebnisse dort in einem separaten Blogpost neben einigen weiteren nachhaltigen Projekten in Auroville niedergeschrieben. Ihr findet den Beitrag hier …

Auroville – ein Fazit

Das Ziel, dass der Mensch in Harmonie und Einklang mit sich selbst und der Natur lebt, fasziniert uns selbstverständlich. Wer wünscht sich das nicht? Auroville ist ein Zentrum für Innovatoren und Veränderer, die an einem kollektiven Klima positiver Entwicklung und Fortschritt interessiert sind, insbesondere in den Bereichen nachhaltiges Leben und umweltfreundliche Praktiken. Ob Auroville als Wegbereiter und Vorbild auf die große Welt draußen einwirken kann? 

Acht Tage reichen wahrlich nicht aus, um tiefer in Auroville einzutauchen. Beim nächsten Mal würden wir eher in einem Guesthouse in Auroville wohnen wollen, um einfach mehr an den kulturellen Angeboten teilhaben zu können. Da es im März schon sehr heiß und feucht ist,  würde ich lieber früher hierher kommen. Ich wünsche mir, dass unsere Städte für alle Bewohner und Kinder kulturelle Veranstaltungen, Sportangebote und den öffentlichen Nahverkehr kostenfrei zur Verfügung stellen. Wie? Ganz einfach… die Reichen höher besteuern!

Was haben wir sonst so gemacht?

Rolf und ich wollen mal das Meer von Nahem sehen. Die rauhen Wellen und die vielen Fischerboote, in welchen die Inder stehend über das Wasser treiben, haben wir von unserer Terrasse beobachten können. Also folgen wir dem Weg zum Strand, der rechts und links voller Müll ist. Doch was ist das? Wir trauen unseren Augen nicht. Keine Touristen, dafür Fischerboote. Keine Liegen oder Schirme, dafür Müll und Bauschutt. Der Strand in Tamil Nadu gehört gehört eindeutig den Tamilen, deren Haut extrem schwarz ist. Mangels Toiletten zieht sich der Inder schnell den Dhoti hoch und flupps verschwindet die Kacka im Meer, mit der Hand noch schnell nachgewischt und fertig. Abends und morgens ist hier High Season. An anderen Stellen riecht es nach altem Fisch oder Müllresten. Überall sehen wir vom Meer zerstörte Häuser und Mauern. Einige haben ihre komplette Lebensgrundlagen verloren. Die Inder erklären, dass durch den Bau des Hafens in Pondicherry jedes Jahr die Wellen näher an Ufer kommen und Sand abgraben. Dabei ist ihre Zerstörungskraft so groß, dass sie ganze Häuser mitreißen. Entsprechend sieht es aus wie auf einer Baustelle. Unser Spaziergang ist schnell beendet. So ist es eben. Für die Tamilen hat der Strand keinen touristischen Wert. Für sie hat er andere Funktionen. 

Die Zerstörungen sind schon gewaltig

Da es in unserem Resort kein Restaurant gibt, werden wir Stammkunde der Pizzeria Tanto, die einfach die besten und knusprigsten Pizzas hinzaubert. Das beste ist, sie liefern auch noch. Zur Krönung des Abends geht nur noch ein Tatort und ein Bier. Leichter gesagt als getan. Mit Rolf fahre ich sogar über 10 km bis nach Pondicherry, um in einem Alkoholshop einen Vorrat an Gerstensaft zu ergattern. Mit schweren Rucksäcken geht’s zurück. Und der Tatort? Das ruckelige Wifi bewirkt Pausen und Wiederholungen. Was soll’s. Hauptsache, wie zu Hause, zumal mit Schwester und Schwager. Einfach gemütlich! Manchmal braucht man das als Langzeitreisende.

Tatort gucken …

Selbstverständlich steht Pondicherry auch am letzten Abend auf unserem Programm. Zusammengequetscht in einem Tuktuk düsen wir zu viert ins 10 km entfernte französisch geprägte Städtchen. Ganz anders sehen die Häuser und Straßen hier aus. Irgendwie ordentlicher, schöner angestrichen, wobei mir die grau-weißen Häuser nicht so zusagen. Auf der Strandpromenade zu flanieren, ist hier Pflichtprogramm. Liebespaare auf Bänken, Familien mit Kindern und viele Franzosen schlendern hier entlang. Die Hotels und Restaurants wirken mondän und wie aus einem anderem Film. So chic! Am Ghandi-Denkmal vorbei entdecken wir Kunstwerke. Hier sind Porträts von berühmten Menschen auf geflochtenen Palmblättern gemalt. In einem französisch gestyltem Restaurant essen wir draußen im Garten. Wie üblich, schwitzen wir und bitten darum, den Ventilator – auch draußen – anzustellen. Sogar kaltes Bier wird uns serviert. 

Am nächsten Tag geht es zurück nach Chennai, um von dort zu unserer letzten Station in Indien, Goa, weiter zu reisen …   

Authentisches Indien in Kalkutta und ein herzliches Wiedersehen

Wie sind wir bloß auf die Idee gekommen, uns ausgerechnet in Kalkutta zu verabreden? War es etwa der Romanautor Dominique Lapierre mit „Kalkutta – Stadt der Freude“, der so berührend und fesselnd den ungebrochenen Lebenswillen und das positive Lebensgefühl der Bewohner trotz schier aussichtsloser Zukunft, Armut und Hunger beschreibt? Dieses Buch ist so fesselnd, so spannend und berührend, dass ich nur jedem Westler mit Hang zum Nörgeln und Pessimismus empfehlen kann. 

Voller Vorfreude reisen wir also in die Stadt der Freude. Denn hier sind wir mit meiner Schwester, Saskia, und ihrem Freund, Jürgen, am 01. März 2019 verabredet. Wir freuen uns riesig aufeinander, denn nach so langer Zeit ohne Freunde und Familie fehlt es uns sehr, mit vertrauten Menschen zusammen zu sein.  

Saskia (Eves Schwester) und Jürgen – die Freude ist riesig, die Beiden in Kalkutta wiederzusehen

Für was ist Kalkutta eigentlich berühmt? Für Viele ist Kalkutta zum Inbegriff des Elends geworden, mit dunklen Gassen, in denen Menschen elendig verhungern. Und über allem schwebt Mutter Theresa in weißem Gewand und breitet ihre Hände gütig aus.Typische Assoziationen zu Kalkutta, oder?

Dass Kalkutta mal die Hauptstadt Indiens war und an einem der heiligsten Flüsse Indiens, dem Hugli (Hoogly), einem Seitenarm des Ganges liegt und voller Prachtbauten aus der Kolonialzeit ist, wussten wir vorher auch nicht. Später erfahren wir, dass Kalkutta, die heimlichen Kunst-und Kulturhauptstadt Indiens, sogar Autoren wie Rabindranath Tagore und berühmte Filmgrößen hervorgebracht hat. Nun, wir begeben uns mitten hinein in diese ambivalente und faszinierende Stadt, die sogar einst Indiens ehemaliger Premierminister Rajiv Gandhi (1984-1989) als eine sterbende Stadt bezeichnete. 

Der Ambassador … unverwüstlich und nicht wegzudenken im Straßenbild von Kalkutta

Der uralte gelbe Ambassador (Amby), der das Straßenbild von Kalkutta prägt, brummelt gewichtig über die Straßen. Mit seinem rundlichen Design, der durchgehenden Bank, die drei Plätze ermöglicht, einem großzügigen Kofferraum, einer weichen, ungeteilten Rückbank mit antik-roten Polstern und den vergitterten Rückleuchten, wirkt diese buckelige Limousine mit ihren Chromstoßstangen wie ein Schlachtschiff neben den kleinen Blechbüchsen. Ein Urgestein von Auto!

Gemächlich gelangen wir gegen Mitternacht in unser Viertel, Lake Gardens. Die große Wohnung, die wir über Airbnb gebucht haben, ist trotz Adresse – wie zu erwarten – schwer zu finden, zumal unser Fahrer kein Wort Englisch spricht. Wir gehen zu Fuß weiter, stehen erstmal blöd rum, wissen nicht weiter. Per WhatsApp gibt Saskia uns Hilfestellung. Wir laufen verwirrt durch das dunkle Viertel, bis wir sie am Ende der Straße entdecken. Mit Tränen in den Augen fallen wir Vier uns in die Arme. Es wird spät in dieser Nacht bis wir nach vielen Geschichten ins Bett fallen. 

Am Morgen fallen uns erst einmal die vielen Kunstwerke in unserer Wohnung auf. In welcher Stadt sind wir hier? Unterschiedliche Kunststile, Zeichnungen, Motive, Miniaturen und große Bilder zieren die Wände, wenn auch etwas zu dicht gedrängt und weniger ästhetisch platziert. Unsere Besitzer stammen wohl aus der Kunst- und Filmszene Kalkuttas. Wir staunen nicht schlecht. Die harten und alten Matratzen bekommen unseren Rücken nicht gut. Für den Preis von 80€ pro Nacht für uns Vier, was hier in Indien wirklich viel ist, hätten wir doch mehr von dieser Wohnung erwartet, die zwar reichlich Platz und jede Menge Sitzmöbel bietet, sogar über eine Terrasse verfügt, aber in puncto Sauberkeit und Betten noch Nachhilfe benötigt. In der Küche klebt eigentlich alles wie Schmiere. Aus den verstaubten Gläsern in der Vitrine möchte auch niemand trinken und die Anzahl der Kaffeetassen reicht nicht für uns Vier. Dass mir auch noch eine riesige Kakerlake im Bad entgegen kommt, bringt mich in nullkommanix auf den Stuhl und Rolf in die Rolle eines Kammerjägers, die er mit Bravour löst! 

Dennoch ist dies hier unser einziger Ruheort. Als wir am Vormittag ein Café zum Frühstück suchen, irren wir erst einmal durch das Viertel und landen meist vor noch geschlossenen Läden. Hier öffnet man erst ab 10 Uhr. Mein Magen knurrt schon seit geraumer Zeit, so dass ich das lange Warten und das Kopfschütteln der Inder im The Tavern Café nur mit missmutiger Laune ertragen kann. Gemächlich wird die Kaffeemaschine angestellt und die Bestellung mit verwirrendem Blick entgegen genommen. Das klappt doch niemals!

Unsere Hausbesitzerin hat uns erklärt, warum hier niemand Englisch spricht. Das kann ja lustig werden! Als nach ca. einer Stunde die Chefin, eine moderne, geschminkte Inderin kommt und die Fäden in die Hand nimmt, fluppt es. Kaffee kommt. Essen kommt. Komische Smoothies mit grellen Farben kommen auch. Nicht unbedingt das Bestellte! Egal. Wir haben alle Hunger. Natürlich möchte die Chefin, dass wir wiederkommen. Ein Selfie zum Abschluss, damit sie ein Foto für Ihre Homepage hat. Das brauchen wir nun wirklich nicht die nächsten fünf Tage. In dem kleinen und engen Supermarkt erwerben wir den gesamten Joghurt-Vorrat, Milch, Müsli und Kekse. Bier gibt es nur in den Alkohol-Shops, kleine, dunkle Läden, meist mit einem Gitterfenster und einer Luke, wo abends Männer in Gruppen anstehen und wo wir auf die indische Art des Anstehens zurückgreifen müssen – Ellbogen ausfahren und vordrängen – ansonsten würde man verdursten. 

Gestärkt und unternehmungslustig gehen wir zur Metro. Jemanden zu finden, der uns versteht, der uns sagen kann, wo wir ein- und aussteigen sollen, bringt uns immer wieder in netten Kontakt. Auch in der vollen Bahn selbst, werden wir bestaunt. Ist ein halber Platz neben dir frei, setzt sich ein Inder hin. Körperkontakt inklusive.  Von der Haltestelle „Mahatma Ghandi“ treibt es uns Richtung Hugli, der ähnlich wie der Rhein, Kalkutta in zwei Seiten teilt.

Anlieferung im Bazar

Ehe wir uns versehen, befinden wir uns an einer von alten dunklen Kolonialhäusern, die langsam in Würde verfallen, umgebenden Hauptachse wieder, auf der Waren aller Art auf Fahrzeugen und Menschen aller Art transportiert werden. Diese überqueren wir mutig und landen in den engen Gassen des Bara Bazars (Burrabazar), der sich von einem Garn- und Textilmarkt zu einem der größten Großhandelsmärkte entwickelt hat. Ein süßer Chai aus Tonschalen gibt uns Energie für das chaotische Gewühle hier im Bazar. Unsere Augen wissen gar nicht mehr, wohin sie zuerst schauen sollen. So viele neue Reize für alle Sinne. 

Masala Chai gibt‘s an jeder Straßenecke

Ein faszinierendes Flair, so authentisch indisch. Vor und in den fragilen, bröckeligen Häusern wird gekocht, gebraten, rasiert, gesägt, gebohrt, Haare geschnitten und verkauft. Blumenketten, Früchte, Gemüse, Stoffe, Saris, Handys, Töpfe, Ton und so vieles mehr. Ständig springen wir auf Seite, wenn hinter uns eins der unzähligen Lastenräder klingelt. Auf einer großen Holzlade transportieren sie Kisten so hoch wie ein Kamel, lange Bambusstangen, Mangos, Kartoffeln und vieles mehr. Auch auf dem Kopf tragen Inder Kisten durch die verwinkelten Gassen. Einem Ameisenhaufen gleich geht hier jeder seiner Arbeit nach. 

Am Ende hilft nur noch schieben …

Die Kreuzung an der Howrah Brücke zu überqueren, um zum Blumenmarkt und zum Flussufer zu kommen, ist die Mutprobe des Tages. An dem Ghat schlafen Inder im Schatten oder waschen sich im Hugli, der für die Bewohner eine große religiöse Bedeutung hat. Kalkutta liegt nämlich gar nicht am Ganges, wie dies in Vico Torrianis 50er Jahre Schlager heißt. 

Es wimmelt von Tauben, Taubenkacke und Müll. Wo ist denn hier mal ein Café oder ein Biergarten, um uns von den Gerüchen, Geräuschen und visuellen Zumutungen der Megametropole zu erholen. 

Waschen im Hugli

Schweißperlen rinnen uns über die Stirn. Doch kein Plätzchen in Sicht. So ist es in Kalkutta. Also weiter durch die Straßen, in denen wir immer wieder extreme Armut wahrnehmen. Hier leben Familien am Straßenrand unter einer Plane, in Hütten aus Pappkarton, Lehm oder Wellblech. Eine neben der anderen, den ganzen Gehsteig hinunter. Schmutzige Kinder spielen Cricket. Eine Frau sitzt jeden Tag in einem Müllberg an der Straßenecke in unserem eher wohlhabenden Viertel und sucht nach verwertbarem Müll. In der Parkstreet mit Starbucks, Apple, McDonald und Modeshops wird diese Frau niemals zu finden sein. So nah beieinander, so extrem. Bettler mit verkrüppelten Füßen oder Händen, Kinder oder Frauen mit Babys auf dem Arm betteln an roten Ampeln um Almosen. Als ich die Hälfte meines Mittagessens einem Bettler geben will, lehnt er ab. Es ist so unbeschreiblich, was wir hier an Eindrücken präsentiert bekommen. Das Straßenleben, die Bazare, die Ghats am Hugli … das sind unvergessliche Eindrücke. 

Der Müll wird nach Verwertbarem durchsucht

Mit dem Amby (Ambassador) brummeln wir zum Queen Victoria Memorial, das von einem großen Park umgeben ist. Das weitläufige, 1921 eingeweihte Queen Victoria Memorial aus weißem Marmor erinnert von seiner Form an den Taj Mahal. Den Eintritt fürs Museum (500IR/6€) halten wir für übertrieben, weswegen wir uns mit dem Park begnügen, in dem sich indische und bengalische Familien tummeln. Sitzen zusammen auf der Wiese, spielen, machen Sport und freuen sich über ein Selfie mit uns. Auf dem Plateau eines riesigen, verzierten Steinquaders thront auf einem Stuhl die Skulptur der ehemaligen „Königin von England und Kaiserin von Indien“, in den Händen Weltkugel und Zepter. Angesichts unseres Bedürfnisses nach Pause und Essen suchen und laufen wir wieder durch das laute Großstadtgewirr. So wenig Cafés wie hier haben wir noch nie gesehen. Doch Tante Google ist uns behilflich. Im Chai Café werden uns nach fast einstündiger Wartezeit endlich leckere Fritten mit scharfer Sauce serviert. Wir sind geschafft, wollen nur noch in unsere Ruheoase. Auf dem Rückweg holen wir am Alkohol-Shop unser Kingfisher-Bier und vergnügen uns damit bei der Stunksitzung. Ach, Karneval ist Köln, das ist Heimat!

Kononialhäuser kurz vor dem Verfall

Im Zentrum irren wir eher zwischen großen Kolonialhäusern herum, landen im Uhrenviertel und finden am Streetfood-Stand leckere gebratene Kartoffeln. Der Straßenrand ist gesäumt von erbärmlichen Behausungen aus Planen und Wellblech.  Mal wieder auf der Suche nach einem Restaurant ist das Arsana am Ende der Parkstreet eine gute Wahl. Flotte Kellner, viele Gäste und köstliche Gerüche sprechen für sich. Unsere letzte Sehenswürdigkeit, das Haus von Mutter Theresa, steht an. An einem Friedhof und Müllbergen, in denen Ziegen und Kühe nach Essbarem suchen, vorbei, erreichen wir die Einfahrt. Bevor wir in Mutter Theresas Haus eintreten, überrascht uns ein Barista mit dem köstlichsten Cappuccino in seinem kleinen Café. Diese Ruhepausen vom höllischen Straßenlärm sind so wichtig wie der Kaffee am Morgen.

Mutter Theresa Ordensgemeinschaft kümmerte sich um Sterbende, Waisen, Obdachlose und Kranke, insbesondere um Leprakranken. Am 5. September 1997 starb sie hier in Kalkutta. Das Haus beherbergt heute ihre Grabstätte, ihren Wohnraum, eine kleine Kapelle und eine Präsentation ihres Lebensweges und -werkes. 

Warum wird Kalkutta von seinen Bewohnern aber „Stadt der Freude“ genannt?

 Durch unsere westliche Brille betrachtet, ist das schwer nachvollziehbar, denn die allgegenwärtige Armut, die unzähligen Straßenkinder und Bettler sind erst einmal verstörend. Prunkbauten und Verfall, Ästhetik und Schmutz, Armut und Reichtum. Diese Gegensätze sind hier omnipräsent.  

Wer nach Kalkutta reist, ist hart im Nehmen. Denn Hotels, Restaurants, Cafés, Parks oder andere Orte der Ruhe hat Kalkutta wenig im Angebot. Dafür bietet es Extreme, wie wir es bisher noch nicht erlebt haben … extrem laut und schmutzig, extrem chaotisch und lebendig, extrem arm und heiß, extrem stinkig und überfüllt. Kalkutta wirkt so authentisch indisch wie kein anderer Ort in Indien, die wir bisher kennengelernt haben.   

Unser Abenteuer mit der indischen Post

Unsere warmen Sachen aus Nepal sollen zurück nach Deutschland, damit die Rucksäcke um ein paar Kilos erleichtert werden. Auf den komplizierten Ablauf hat uns meine Schwester vorbereitet, z.B. dass man das Paket vom Schneider einnähen lassen muss. Ein Karton bekommen wir von unserer Hausbesitzerin. Der Parcel-Service hier im Haus, der anfangs als einfache Lösung schien, nimmt fast 100€. So geht’s also nicht!

Demnach geht kein Weg an der indischen Post vorbei. Wir packen alles in den Karton, ohne ihn zuzukleben. Wir schätzen ihn auf 4 kg und ziehen mit starken Nerven im Gepäck los. Dass uns diese Aktion mindestens den halben Tag kosten wird, davon gehen wir mal aus. Bei der nächsten Poststelle sagt man uns, dass es hier nicht möglich sei, doch in der Poststelle in ca. 1 Kilometer sei dies möglich. Unsere Versuche ein Tuktuk zu bekommen, scheitern alle, weil  – was wir nicht wissen – die Straße über die Schienen führt, die mit ihren permanent geschlossenen Schranken jedes motorisierte Fahrzeug am Überqueren hindern. Gut, zu Fuß geht’s auch bis hinter die Schienen, wo uns ein Tuktuk zur Post bringt.

Anstellen, die Erste! Zwei gleiche Formulare sollen wir ausfüllen, was genau drin ist, wieviel jedes Teil wiegt und welchen Wert es in Rupien hat. Einen Kopierer gibt’s scheinbar nicht. In Rolfs Gesicht lese ich Verzweiflung und Ungeduld. Gleich gibt er auf und schmeißt die Brocken hier durch die indische Post! Geduldig packe ich unsere Sachen auf einen Stehtisch und bitte Rolf geduldig, die Teile auf Englisch zu beschreiben. Nur widerwillig geht er darauf ein. Ich schreibe: 1x Underwear, 1x T-Sirt usw. Wir schätzen das Gewicht und den Wert Pi mal Daumen. Die Werte übertrage ich auf das zweite Formular.

Anstellen, die Zweite! Der indische Beamte überprüft kritisch die Angaben und weist uns an, das Paket einnähen zu lassen. Dreißigste Minute! Wunderbarerweise sitzt direkt vor dem Posteingang der besagte Schneider, der geschickt und professionell den Karton zuklebt und geduldig den weißen Stoff zuschneidet und um das Paket näht. Mit einem Filzschreiber versucht Rolf auf dem rubbelnden Stoff die Adresse zu schreiben. Vierzigste Minute … das geht doch!

Das Paket wird erstmal zugenäht

Anstellen, die Dritte! Wir warten angespannt, während der indische Beamte alles in seine Computer eintippt. Das Paket mit 4,3 kg kostet nun 3000 IR/ca. 39€. „Fertig?“, fragen wir Vorsicht den Beamten. Als er nickt, lachen wir uns zu, klatschen uns ab. Fünfundvierzigste Minute. Wenn es einen Wettbewerb in „Indische Pakete schicken“ gäbe, hätten wir ihn ganz bestimmt gewonnen und zukünftig lächeln wir über die 15 Kilogramm-Beschränkung so mancher Airline.

Kalkutta – mehr als ein vor Dreck erstarrtes Armenhaus 

Das ehemalige Fischerdorf Kalikata wurde von den Engländern 1690 in Kalkutta umbenannt. Aufgrund der zahlreichen Handelsniederlassungen und des Zugangs zum Meer entwickelte sich Kalkutta zur Hauptstadt. Der florierende Handel brachte Wohlstand, viktorianische Prachtbauten und große Parkanlagen. Dieses koloniale Erbe ist bis heute spürbar, bildet es doch einen befremdlichen Kontrast.

In der Megametropole, die seit 2011 offiziell Kolkata genannt wird, leben mittlerweile rund 15 Millionen Menschen, inoffiziell schätzt man mehr als 30 Millionen. Wie Schiffbrüchige, die dem Hunger entfliehen, landen sie hier an. Jahr für Jahr. Damit hat das Elend Einzug gehalten, wofür sie Berühmtheit erlangt hat. Ihre koloniale Vergangenheit und ihre Bauwerke, ihre Kultur-und Kunstszene gerieten in Vergessenheit. Diese immer dichter werdende Besiedelung reduzierte den Platz pro Einwohner auf kümmerliche 3,7 Quadratmeter, wobei sich die vier bis fünf Millionen in den Lehm-, Wellblech- und Pappkartonvierteln mit einem Quadratmeter pro Kopf begnügen. Mangels Toiletten verrichten sie ihre Notdurft auf offener Straße. 

Für einen Großteil der Menschen der niederen sozialen Kasten ist jeder Tag ein Überlebenskampf. Sie hungern, schlafen auf der Straße oder unter Planen, arbeiten als Tagelöhner für ein bis drei Euro am Tag, meist ohne Arbeitsvertrag, d.h. ohne Rechte und Sicherheit, dass sie ihr Geld auch bekommen. 

Doch Kalkutta ist viel mehr, mehr als Armut, Elend und mehr als ein Haufen Scheiße, denn Kalkuttas kulturelle Vielfalt sucht Ihresgleichen in Indien. Sie beherbergt die größte Bibliothek mit rund neun Millionen Bänden, die landesweit größte Anzahl von Verlagen, zahlreiche Theaterbühnen und Museen und eine lebendige Filmszene, die ohne Kitsch und Tanz auskommt, stattdessen politischen und sozialen Lebensumstände kritisch hinterfragt. Die Plakate des internationalen Filmfestival sind allgegenwärtig. Am Victoria Monument werden Fotografien von Nachwuchsfotografen präsentiert. Mindestens 10 weitere Veranstaltungsorte werden in dem Flyer aufgeführt. Wer Lust und Zeit mitbringt, kann hier Filme und Fotografien von hoher Qualität erleben. Heute gilt Kalkutta als das geistige Zentrum Indiens mit einer hohen Alphabetisierungsrate. 

Das macht den Reiz Kalkuttas aus. Ja, die Stadt ist reich, reich an Kultur, reich an starken, widerstandsfähigen und kreativen Menschen, reich an Authentizität, an Faszination und Freude. 

Wer sich vorurteilsfrei auf all dies einlässt, wird jedenfalls reich belohnt.

Chennai – das ehemalige Madras

Die viertgrößte Stadt Indiens und Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu ist so anders als Kalkutta. Am Flughafen klappt alles wie am Schnürchen. Rolf bestellt ein großes Uber-Taxi, dass uns durch die gut ausgebauten Straßen, die von bunten Geschäften gesäumt sind, recht zügig in unser Viertel bringt. Weniger Müll, weniger Verfall, dafür modern, sauberer und bunt. Der Verkehr wirkt normal. Dass Chennai für die Filmindustrie ebenfalls eine große Bedeutung hat und sogar Bollywood überholt haben soll, erfahre wir erst später. In Chennai ist es ebenso heiß und schwül wie in Kalkutta. Auch am Abend bei unserer Ankunft im Hotel Broads Land rinnt uns der Schweiß, als wir unser Gepäck die steilen und engen Treppen hochschleppen. In dem Zimmer schlägt uns extrem heiße Luft entgegen, wie wenn du den Backofen öffnest. Wie sollen wir hier denn schlafen? Ein Bier würde uns helfen. Sechs Fensterläden öffnen, Ventilatoren einschalten, durchatmen … es ist nur für eine Nacht und für 6€ wollen wir nicht meckern. Tomorrow is another day!Das Bett mit harter Matratze steht fast mittig in dem geräumigen Zimmer, das Bad könnte eine Generalüberholung gebrauchen. Immerhin kommt Wasser aus den Leitungen.

Doch unser ehemalige Palast im Stadtteil Tripicane punktet mit einem besonderen Ambiente mit grünem Innenhof. Wir fühlen uns zurückversetzt in eine andere Zeit. Der marode Charme dieses alten Herrenhauses ist schon beeindruckend. Dass es direkt neben der großen Moschee liegt, hören wir erst in der Nacht, als per Lautsprecher zum Gebet gerufen wird. Die nahe Einkaufsstraße überrascht uns mit einer riesigen Auswahl an Restaurants, Geschäften und Cafés. Sogar gegrilltes Fleisch wird angeboten, was im mehrheitlich vegetarischen Indien seltener ist. Die Luft ist selbstverständlich schlecht und der Verkehr laut. Immerhin gibt es Bürgersteige, auf denen man teilweise laufen kann. Schließlich bemerken wir den hohen Anteil muslimischer Bewohner und ahnen, dass es hier kein Bier geben wird. In einem gut gekühlten Restaurant können Jürgen und Rolf ihren Appetit auf Fleisch stillen. Auf der Suche nach einem Nachttrunk landen wir in einer Secret Bar eines Hotels in der 5. Etage. Na, geht ja doch! Gewusst wo! 

Für mich wird diese Nacht grauenhaft. Moskitos umkreisen meine Ohren wie Motten das Licht. Ein quietschender Deckenventilator verteilte die stickige Luft im Raum. Ich fühle mich wie in einer Dampfsauna. Der Muezzin ruft lauthals zum Gebet. Ich sehne nur noch den Morgen herbei, denn die universelle Stadt Auroville, in der Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen zusammen in Frieden und Harmonie leben, wird eine berührende und intensive Bereicherung.

Rajasthan, Teil 2

Im zweiten Teil unserer Reise durch Rajasthan besuchen wir die Wüstenstadt Jaisalmer, erleben die Lady auf der Sänfte, besuchen die blaue Stadt Jodhpur und beenden unsere Radjasthan-Tour in Udaipur mit einem Kochkurs.

Wüstenstadt Jaisalmer

Während wir die größte Entfernung von über 400 km von Pushkar Richtung Westen nach Jaisalmer zurücklegen, verändert sich die Landschaft zusehends. Trocken und sandig, erdfarben und staubig, spärlich besiedelt und auffällig ruhig. Den bisher besten Lassi und leckerstes Butter Naan entdecken wir unerwartet an einem der üblichen Stopps auf dem Highway. Wir kommen besser voran als zuvor, da in dieser abgelegen Gegend keine Rushhour herrscht. 

Wie wird sie sein, die schönste Wüstenstadt mit ihrer Atmosphäre aus 1001 Nacht? Ob wir wirklich auf Kamelen reiten werden? Unterm Sternenhimmel in der Wüste schlafen, das soll’s schon sein.

Jaisalmer

Von weitem ist das Jaisalmer Fort oben auf dem Berg schon zu sehen, als wir nach acht Stunden zu unserem Hotel Shahi Palace kommen. Aus dicken Sandsteinmauern mit kleinen Rundbogenfenstern, einer schönen Dachterrasse gleicht das Hotel einem klassischen Haveli. Bis auf die zu harte Matratze und den Lärm in der Nacht, ist alles okay.

Am nächsten Morgen laufen wir zur bedeutendsten Sehenswürdigkeit der Goldenen Stadt. Über alte Kopfsteinpflaster passieren wir gigantisch hohe Torbögen in den riesigen Palastkomplex. Eine Kombination aus Orient und Mittelalter garniert mit bunten Tüchern, Wandbehängen und Kleidern. Wir können uns lebhaft vorstellen, wie die Maharadschas hier früher auf Elefanten hineingeritten sind. Die alte Karawanenstadt, die früher an der wichtigen Handelsroute zwischen Indien und Arabien bzw. Europa lag, kam im Mittelalter zu immensen Reichtum.  Durch den Ausbau der Häfen und anderer Handelsrouten nahm deren Bedeutung ab. Heute spielt der Tourismus besonders von November bis März eine entscheidende Rolle. Ab April steigen die Temperaturen auf ca. 50 Grad, gepaart mit heißen Wüstenwinden. Unser Kellner sagt,  die Touristen hielten sich nur noch in klimatisierten Räumen auf, nicht mehr hier auf dem Rooftop. Wir haben schon die angenehmste Reisezeit gewählt.

Unser Rooftop im Hotel Shahi Palace

Der Ausblick von dem mauerumgebenden Fortbereich in die sich ausbreitende Thar-Wüste lässt erahnen, wie es weiter Richtung pakistanische Grenze aussieht. Uns gefällt besonders die Lebendigkeit dieses Forts. Eben nicht nur Steinmauern ohne Leben. Zahlreiche Havelis, Tempel, Wohnhäuser und Geschäfte säumen die engen Gassen und geben zahlreiche Fotomotive ab. Ständig könnte ich stehenbleiben und fotografieren. So viele Motive auf engstem Raum. Doch am liebsten sind uns die Menschen, besonders die in farbenprächtigen Saris gehüllten Frauen und die wilden Kinder. Auch die Rajputis  – Einwohner Rajasthans – mit ihren roten, weißen und blauen kunstvoll gewickelten Turbanen geben ein prächtiges Bild ab. Für uns ein absoluter Höhepunkt unserer Rajasthan-Rundreise. Im Trio Restaurant in der Unterstadt gönnen wir uns eine Pause und essen köstliches Biryani. 

Steinmetzarbeiten in Jaisalmer

Durch die Straßen zu laufen ist in Indien kein Vergnügen. Das ständige Ausweichen von Hindernissen, kombiniert mit Lärm und dem chaotischen Treiben ist anstrengend, so dass ein Tuktuk oft die Rettung ist.

Im Desert Culture Center, das von dem 82jährigen Mr. Sharma privat betrieben wird, wird die Lebensweise und Kunst von Jaisalmer ausgestellt. Indem er über Jahre Musikinstrumente, Küchengeräte, traditionelle Kleidung, Bücher, Werkzeuge und Schmuck der Rajputis gesammelt hat, trägt er zum Erhalt dieser alten Rajasthani Volkskunst bei. Jeden Abend wird ein Puppentheater (Marionetten) gezeigt, dass die Tänze und Geschichte Rajasthans mit Hilfe traditioneller Instrumente darstellt. Nach 30 Minuten ist Mr. Sharma persönlich für Fragen ansprechbar. Da der Eintritt mit 100 IR (1,30€) recht gering ist, besteht die Möglichkeit zu spenden. Eine sehr unterstützenswerte Arbeit. 

Auch der Gadisar See ist eine Sehenswürdigkeit in Jaisalmer. Das Ufer ist von kunstvoll geschnitzten Chattris – kleine, seitlich offene Pavillons mit von Säulen getragenen Kuppel – Tempeln und Ghats umgeben. Ausnahmsweise ist dieses Wasser hier wohl nicht heilig! Die Säulengänge und Bogenfenster sind meine liebsten Fotomotive. Als wir die Kreuzung zur Altstadt überqueren, sehen wir auf der anderen Straßenseite ein Bett mit einem alten Mann. Mitten drin im Verkehrschaos an der Hauptstraße! Ob er hier tatsächlich schläft? Unglaublich! 

Ein Bett mitten im Verkehrschaos

Der letzte Abend mit seinem blauen Himmel taucht den gelben Sandstein der Häuser und des Jaisalmer Forts in unzählige Goldtöne. Vom Rooftop unseres Hotels sehen wir das Fort leuchten wie nie zuvor. Die Musik aus ohrenbetäubenden Boxen unterbricht unsere beschauliche Ruhe. Ein ganzer Hochzeitszug mit Trommlern zieht nicht nur durch die Gasse, nein, auch mitten durch unser Hotel. That’s incredible India! 

Der Duft von Indien

Ach ja, und natürlich riecht es oft streng, unangenehm, ekelig. Kühe, Ziegen, Hunde und Männer pinkeln überall hin. Ständig macht sich einer die Hose gerade auf oder zu. Beißender Uringestank in den engen Gassen. Wie sich daneben ein Klamottenshop halten kann, ist uns ein Rätsel! Auf den Toiletten halte ich einfach die Luft an und mit meiner Sonnenbrille sehe ich zum Glück weniger. Kühe durchstöbern Müll, reißen Beutel auseinander, verteilen alles auf der Straße. Müll ist allgegenwärtig. Unser Blick immer schön auf den Boden gerichtet.

Rolf mit seinen Flipflops rutscht auf einem Fladen aus, fängt sich aber wieder. Good luck! Die Wasserrinnen und -pfützen neben der Straße gleichen einer Giftbrühe, wie Seifenlauge mit Essenresten. Wenn eine Rinne verstopft ist, kommt ein Reinigungstrupp und pult den Schmodder raus, aber der Kloakengestank ist allgegenwärtig. Manche Flüsse können vor lauter Müll nicht mehr fließen. Unbebaute Plätze gleichen Müllhalden. Menschen sitzen daneben und spielen Karten. Incredible! 

Doch genauso gehört der Geruch von Patschouli und Räucherstäbchen zu Indien wie der duftende Chai. Das Anbraten der Magic Sauce, der Mutter aller Currys, mit Kreuzkümmel, Koriander, Chilli, Fenchel, Oregano, Kurkuma, Knoblauch und roten Zwiebeln ist ein Hochgenuss für unseren Geruchssinn. 

Kamelreiten in der Tharwüste

Die 40 Kilometer in die Tharwüste führen über eine einspurige, schnurgerade wellenförmige Straße, die meine Magen in Unruhe versetzt, zumal die entgegenkommenden Jeeps mit höchster Geschwindigkeit entgegenkommen. Warum haben die es denn bloß so eilig? Immer voll Speed scheint hier ein Markenzeichen zu sein! 

Für Schafe, Ziegen und Kühe bremst Mr. Singh wie aus heiterem Himmel. Die trockenen Bäume und dornigen Büsche, die hier auf dem ausgedörrten Boden überleben, bieten den Ziegen und wilden Kühen sogar noch Futter. Hin und wieder taucht ein Brunnen auf, an der Inderinnen mit einem Krug Wasser holen. Wie sie den Krug mit einem Arm auf dem Kopf elegant transportieren, in ihren farbigen Saris vor braunem Wüstensand … ein fantastisches Bild. Wir befinden uns nun im Halbwüstengebiet der Thar-Wüste, östlich des unteren Indus, mit 3180 km der längste Fluss auf dem indischen Subkontinent und wichtigster Strom Pakistans. Nur wenige kleine Oasen/Orte tauchen am Horizont auf. 

Im Registhan Resort, das am Rande der Sanddünen liegt, werden wir am Nachmittag herzlich mit einem Chai empfangen. Übernachten können wir draußen unterm Sternenhimmel oder in einem großen Zelt. „It’s up to you“ bekommen wir wie so oft zu hören. Das Bett würden sie uns dann nach draußen stellen. Sogar Bad und Strom ist da!

Da ich etwas aufgeregt bin, auf ein Kamel zu steigen, beschließe ich, mich schon mal mit ihnen anzufreunden. Drei Kamele liegen bereits vor dem Eingang auf dem großen Platz. Nach und nach kommen Kinder auf Kamelen im Galopp aus unterschiedlichen Richtungen angeritten. Mir bleibt die Spucke weg! Ich erfahre, dass Familien ihre Kamele verleihen, um damit Geld zu verdienen, denn Arbeit gibt es hier in der Wüste kaum. Ich schleiche um die liegenden Kamele herum. Ihr schlabbriges Kinn bewegt sich hin und her und ab und zu ertönt ein lautes Blubbergeräusch, wie in einem Abfluss. Was ist das? Woher kommt das komische Geräusch? Ich drehe mich zu dem Kamel und sehe eine riesige, dicke, blaue Zunge aus dem Kamelmaul hängen. 

Vorher …
… nachher.

Ihre Gesichter wirken freundlich und entspannt, der Blick mit den langen buschigen Wimpern wirkt verträumt, wofür das Nasenpiercing ist, weiß ich noch nicht. Die Sättel mit ihren dicken Decken sehen auch bequem aus. Nach und nach trudeln ca. 20 Kamele ein. Mein Kamel wird mir vorgestellt. Ich bitte Rolf zuerst aufzusteigen. Bewundernd schaue ich ihm zu, während Mr. Singh das Ganze filmt.

Dann komme ich dran. Oh weh, mein Herz klopft immer schneller, meine Hände schwitzen.Mit dem linken Bein hole ich Schwung und paff! Mein Schienbein knutscht den Sattel! Aua! Keine Zeit für Aua, also zweiter Anlauf. Mein Po will noch nicht so ganz rüber rutschen. Mein Helfer traut sich scheinbar auch nicht, diesen anzufassen und nachzuschieben. Nun gut, ich sitze, umklammere den Knauf fest und lehne mich weiter nach hinten als notwendig. Die Hinterbeine des Kamels richten sich auf … ich beginne zu zittern, okay, das geht ja so grade noch, doch dann kommt’s … die Vorderbeine gehen hoch in den Himmel und Stresshormone durchfluten meinen Körper.

Ich höre mich nur noch „No, No, No …!“ rufen … das geht nun wirklich nicht, diese Höhe ist mir zu viel, unvorstellbar dass ich zwei Stunden hier oben verbringen soll, und dann noch schaukelnd … so wird das Kamel wieder nach unten geordert und ich steige zitternd ab. Der Karren wird herangeschafft, ich klettere hinauf und werde vorneweg gefahren, während Rolf so mutig auf seinem Kamel hinter mir her schaukelt und sich lustig macht. Die Lady auf der Sänfte!  

Unser Kamel-Mann (den Namen haben wir leider vergessen) erzählt uns, dass es hier kaum Arbeit gebe und er nur vier Stunden am Tag arbeite. Jeden Tage diese Kameltour. An den Sanddünen angekommen, laufen wir hinunter zu den Dünen, schießen Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven und genießen das Farbspiel im Wüstensand … die wie eine Perlenkette aufgereihten Kamele auf der Düne, die weichen und runden Wellen der Sandhügel mit ihren symmetrischen Mustern des Unberührten im warmen Lichtspiel der untergehenden Sonne … wie verzaubert sitzen wir einfach nur da. Mit der untergehenden Sonne wird es auch sofort kalt. Als wir gemächlich zurückschaukeln, fragt unser Kamel-Mann Rolf: “Do you want run?“Witzbold … „No!“

Die Tänzerin bei der abendlichen Tanz- und Musikdarbietung kann unfassbar schnell mit ihren Hüften und Brüsten wackeln und zittern. Ihr Kostüm ist berauschend schön mit Silberplättchen und Glöckchen, bunt im Rajasthani-Style. Sie bittet alle Frauen auf die Tanzfläche. Oh weh, wie soll ich das denn bloß hinbekommen? Zwanzig Frauen geben ihr Bestes. Wir ahmen Sie soweit wir können nach. Doch ihr Tempo, ihre Energie und ihre Eleganz sind unbeschreiblich. Wann hören die Trommelspieler denn endlich auf und erlösen uns von dieser peinlichen Show? 

Dylans Guesthouse in Jodhpur 

Für 6€ pro Nacht haben wir bisher auch noch nicht übernachtet. Wir sind gespannt! Wieder eine Altstadt mit engen Gassen, die für Autos weniger geeignet sind. So steigen wir um in ein Tuktuk, das sich wie eine Schlange durch dieses verwinkelte Chaos windet, oft nur mit Millimeter-Abstand zum nächsten Moped oder Haus. Die Maharadschas der Straßen sind die Moped- und Tuktukfahrer, die mit übergroßen Ladungen alles aus dem Weg hupen. Frei nach „Ich hupe, also bin ich“ rasen sie rücksichtslos in die Menge.

Selbstredend ist der Name des Guesthouses Programm. Zu Bob Dylans Klassikern ist der Ausblick auf das riesige Fort und die blaue Stadt besonders romantisch. Das Bad ist so klein, dass wir uns den Kopf an der Wand stoßen, wenn wir auf der Toilette sitzen. Die Armaturen der Dusche erfordern besonderes Geschick bei der Einstellung des Wassers, das meistens aus beiden Hähnen gleichzeitig läuft. Doch für den Preis wollen wir nicht meckern und greifen auf das altbewährte Mandi zurück. Unser Viertel ist so richtig indisch, so dass der Alltag hier ungeschminkt zum Vorschein kommt. Neben Ziegen, Hunde und Kühen sitzen ältere Menschen im Hauseingang, Kinder spielen Kricket und Frauen klappern mit den Metalltöpfen. Wir schlagen uns durch die gelb-schwarze Tuktuk-Gang bis ins Curry-House, wo wir köstliches Palak Paneer und Curries bekommen.

Jodhpur, die blaue Stadt

Wie zu erwarten hat Jodhpur, die ehemalige Hauptstadt des Rajputenstaates Marwar, ebenfalls mehrere Paläste, Tempel und Festungen zu bieten. Wegen seiner blauen Farbe an den Häusern, die die Zugehörigkeit zur Kaste der Brahmanen kennzeichnet, ist Jodhpur berühmt. Aber auch für seine Festungsanlage, das Meherangarh Fort. Hoch oben auf einem 140m hohen Felsberg, umgeben von einer 10 km langen Mauer ragt es aus der Stadt wie eine mächtige Trutzburg hervor. Obwohl es das beeindruckendste Fort von ganz Indien sein soll, zieht es uns nicht in seinen Bann. Uns fehlt das quirliges Leben wie im Fort in Jaisalmer.

Nach einem Spaziergang durch die Höfe und den Park zieht es uns zurück in die lebendige Altstadt hinter dem Uhrturm (Clocktower). Konnten wir etwa ahnen, dass das bunte indische Marktleben hier bei uns freudige Erregungen auslöst? Wir können uns gar nicht mehr sattsehen an dem Farbenrausch der Saris und Stoffe, an den Pferdekutschen, den Fahrradläden ohne jegliches HiTec, den Haushalts-Krims-Krams. Mit scharfen Pakhoras (Teigbällchen mit Gemüse) gestärkt treten wir den Rückweg an, vertreiben uns die Zeit auf den Dächern dieser schmutzigen und lauten, aber dennoch beeindruckenden Altstadt. 

Wir sind ein geiles Team!

Auf den Dächern von Udaipur

Die weiße Stadt Udaipur besticht durch ihre Vielzahl von Dachterrassen mit Blick auf den Pichola-See. Der City Palast ist zwar berühmt, doch wir sind so satt von all den Festungsanlagen und Palästen, dass wir nur noch sein wollen. Eine Ayurvedische Massage, etwas Fußpflege und ein Kochkurs bei Shashi füllen unser Programm zu genüge aus. Da Frauen in Nordindien weder Schultern noch Knie zeigen, bin ich mit meiner einzigen langen Hose etwas eingeschränkt. In den Geschäften hier gerate ich ins Schwärmen, kann mich kaum entscheiden und finde letztlich einen Rock, ein paar bunte Tuniken und Leggins. Ein wunderbarer Schneider ändert die Tunika an nur einem Tag von Größe 38 auf 42. Sofort fühle ich mich in meiner lila Leggins mit pink-lila-weißer Tunika so wohl, dass ich die Kombination nur noch nachts ausziehe. Rolf verzichtet auf eine Neueinkleidung. 

Blick über den Pichola See auf Udaipur von unserem Rooftop

Magic-Sauce bei Shashi

Mit Feuereifer überzeuge ich Rolf von dem indische Kochkurs bei Shashi, einer älteren Frau, die vor ca. 8 Jahren nach dem Tod ihres Mannes aus der Not heraus mit Kochkursen angefangen hat. Da der Kurs erst am späten Nachmittag um 17:30 beginnt, lauschen wir mit knurrendem Magen Shashis Lebensgeschichte. Wann fangen wir endlich an? Hätte ich doch nur vorher etwas gegessen! Außer uns nimmt noch eine junge Frau aus Israel teil, deren Mutter zwar anwesend ist, aber Kochen hasst und sich daher aufs Zuschauen beschränkt.  

Shashi leitet an

Endlich starten wir mit der Herstellung des Koriander-und Mango-Chutneys. Die Pakhoras in zwei Varianten schmecken köstlich dazu. Die drei Inder, die sich am Tisch lauthals auch mit ihr unterhalten, geben uns Rätsel auf. Der etwas Kräftigere ist ihr Sohn, der ihr assistiert. Shashi’s didaktisch-methodische Vorgehensweise zwingt uns in eine eher passive Rolle, dabei wollen wir doch alles selbst machen. Während sie knetet, wendet und rührt, leitet sie uns an wie beim Militär. „Mix it!“ oder „Come here“ oder „Turn back“. Etwas gewöhnungsbedürftig. Glücklicherweise sind wir nur zu Dritt, sonst hätten wir noch weniger zu tun. Wir fügen uns brav ihren Anordnungen, mixen, drehen, kneten und lernen letztendlich eine ganze Menge über die indische Küche, nämlich …

  • wie fluffiger Reis gekocht wird,
  • dass eine Magic-Sauce die Grundlage für alle Currys ist,
  • dass Naan ungesünder ist als Chapati,
  • wie man Chapatis brät,
  • wie wunderbar die indische Masala Dabba ist,
  • dass Backpulver Kichererbsen schneller weich werden lässt,
  • welche Bedeutung Asafoetida (auch Teufelsdreck genannt) hat und dass es auch in Pappadams enthalten ist, die als Snack überall gereicht werden und 
  • wie Paneer hergestellt wird … und so vieles mehr.
Die Grundausstattung: Kurkuma, Kreuzkümmel, Fenchel, Marsala, 2x Chili, Kardamon,

Hier ein Beispiel (auf Englisch) von Shashis Sohn zur Bedeutung von Asofoetida (Teufelsdreck oder Hing):

„In Pappadams are also Hing. Hing procures that the gas goes out. So you eat more.That’s business. So you feel good and you eat more. Hing is good for your stomach and business,“ 

Auf Deutsch: „In Pappadams (eine Art Knäckebrot) ist auch Hing enthalten. Es bewirkt, dass die Luft aus deinem Körper kommt. So kannst du mehr essen. Das ist ein gutes Geschäft. Du fühlst dich gut und isst mehr. Hing ist gut für den Magen und das Geschäft!“

Aber auch die für Indien typischen Leitsätze „No Problem“ und „ Everything is possible“  werden uns noch eine Zeitlang begleiten. 

Die Küchencrew mit Shashi und ihrem Sohn

Abschied von Rajasthan 

In Udaipur endet nun unsere Rajasthan-Tour. Über 1500 Kilometer durch das Land der Maharadschas, Paläste, Festungsanlagen und Wüste liegen hinter uns. Der Slogan des Touristenverbandes Incredible India“ trifft den Nagel so was von auf den Kopf. Wenn uns andere Reisende zum Abschied einen schönen Urlaub wünschen, stutze ich, denn Urlaub ist das wahrlich nicht. Urlaub verbinde ich mit Entspannung und Easygoing, am Strand faulenzen und lesen, lecker essen und sich um nichts kümmern müssen.

In Indien zu reisen ist unser Vollzeit-Job, herausfordernd, anstrengend, kompliziert und interessant. Indien verlangt viel von dir! Aber Indien bietet auch von allem etwas … Indien verstört und gefällt … Indien ist arm und reich … Indien stinkt und duftet … Indien schmeckt und ekelt … Indien ist extrem! Womit belohnt es dich? Mit den Menschen, die zwar auf den ersten Blick nicht freundlich erscheinen, doch, wenn du sie näher kennen lernst, entdeckst du ihre Liebenswürdigkeit, ihr Schicksal, ihre Probleme und ihr Karma.

Wenn du in Indien reist, veränderst du dich unweigerlich. Du überdenkst deine Sichtweisen, erweiterst deine Perspektiven und wirst dankbarer. Du setzt andere Prioritäten. Auch Indien hat seine Schattenseiten. Keine Frage … Umweltverschmutzung, Armut, die Stellung der Frauen, das Bildungssystem, Korruption, Überbevölkerung, Gesetze, die keiner beachtet … alles ist möglich in incredible India  selbst der Anbau von Opium! Doch genau das macht einen Großteil der Faszination aus! 

Abschied von unserem Fahrer Mahendra Singh. Wir hatten eine schöne Zeit!

Weiter geht’s nach Kalkutta, eine Stadt, die nicht auf der üblichen Touristen-Route steht und mit 15 Millionen Einwohnern bestimmt wieder Einiges zur Horizonterweiterung anzubieten hat … Eines vorweg: Es wird anstrengend!

Rajasthan, Teil 1

Teil 1 befasst sich mit der Zugfahrt von Varanasi nach Agra mit dem Taj Mahal, Ranthambore, Jaipur und Puskar.

Wie finde ich meinen Platz im indischen Nachtzug?

Ach du indische Eisenbahn, obwohl wir früh am Bahnhof waren, um den Nachtzug von Varanasi nach Agra zu nehmen, ist es uns nicht möglich die Stelle am Gleis zu finden, wo unser Waggon A2 halten wird … ein Inder schickt uns in Richtung Kopfende … der Zug fährt ein … doch der Waggon A2 ist genau am anderen Ende, sagt uns der nächste hilfsbereite Inder … also alles wieder zurück … die Züge sind ja bekanntlich lang … sehr lang … schweißtreibend diese Schlepperei … die Beschriftung an unserem Waggon fehlt, doch ich erkenne ein handschriftliches A2, wir steigen ein, doch es ist A1 … der nächste Waggon soll es sein… wir finden nur einen Platz, da wir nicht wissen, was „SL“ auf unserem Ticket heißt… hilflos stehen wir in dieser Enge … Inder von vorne, Inder von hinten, wir mittendrin mit den Rucksäcken … kein Platz und kein Plan … ich rufe zu Rolf „Ich kann nicht mehr!“… am liebsten möchte ich raus laufen und einen Flug buchen …

Ein freundlicher Inder weiß uns zu helfen. SL heißt Side-Low, d.h. meine Liege befindet sich an der rechten Seite unten, Rolfs in der Vierergruppe oben. Ohne Essen und Trinken im Gepäck sind wir nicht gerade gut gewappnet. Auf meiner Liege machen wir es uns mit den Laken und Kissen gegenübersitzend so bequem wie möglich, während der Zug sich langsam in Bewegung setzt. Jeder Nicht-Inder, der seinen Platz hier findet, sieht geschafft aus. Welch ein Glück, dass tatsächlich Essen bestellt werden kann. Noch zwei Stunden müssen wir ausharren, dann kommt unsere Alu-Schale mit viel flüssigem Curry und Reis. Nicht einfach zu essen. So dämmern wir nach dem Essen mit Ohrenstöpsel und Hörbuch langsam jeder auf seiner Liege dahin. 

Die Farben von Rajasthan

Tja Mahal – das Monument der ewigen Liebe

Mr. Singh, unser Fahrer für die Rajasthan-Tour findet uns am Bahnhof von Agra und lacht lauthals über unsere Nachtzug-Story. Na ja, im Nachhinein ist alles lustiger!Wie wir später feststellen, lacht er eigentlich immer, egal was wir erzählen. Kamelkutschen und Männer mit großen Turbanen und buschigen Schnurrbärten sind die ersten Zeugen, dass wir nun das Eingangstor zu Rajasthan betreten. Rikschas, Mopeds, Fahrräder, Busse, Handkarren, Kamele, Kühe, Hunde und natürlich Fußgänger teilen sich den wenigen Platz auf der Straße.  Regeln bestehen wohl, werden aber nicht beachtet. Jede noch so kleine Lücke wird gefüllt. Agra, die Stadt, die mit dem Denkmal der ewigen Liebe immerhin zu Weltruhm gekommen ist, kann uns mit seinem Chaos, den Abgasen, dem Dauergehupe und dem Abfall erst einmal nicht überzeugen. Wir umfahren die Altstadt bis zu unserem Homestay The Coral House. Die freundliche und geschäftstüchtige Inderin empfängt uns herzlich, das Zimmer ist top und wir happy.

Taj Mahal

Zwei Stunden später machen wir uns auf zum wohl schönsten muslimischen Bauwerk, welches der Großmogul Shah Jahan 1731 für seine große Liebe Mumtaz Mahal, die bei der Geburt ihres 14. Kindes starb, als Mausoleum erbauen ließ. Nach der Passage der Sicherheitsvorkehrungen, d.h. keine spitzen Gegenstände, Feuerzeuge usw. und dem Bezahlen des Touristenpreises (immer um ein Vielfaches höher als für Einheimische) betreten wir bepackt mit Überschuhen für das Betreten des weißen Marmors das Gelände. Wenige Menschen bewegen sich in Richtung des großen Tores. Ich bin im Gegensatz zu Rolf schon nervös, denn gleich werde ich das wohl größte Denkmal ewiger Liebe sehen. Wie romantisch! Wie aufregend! Rolf wirkt entspannt wie ein Yogi. Dann sehe ich es, geradeaus geht mein Blick durch dieses Tor. Wahnsinn, so weiß, ganz in Marmor, so symmetrisch und ästhetisch. Wie es sich emporhebt, wie eine weiße Lotusblüte entfaltet es seine Schönheit aus den schlammigen Gewässern von Agra. Das Symbol für Reinheit des Herzens und Treue.

Die Gartenanlage mit ihren Bänken, Blumen und Springbrunnen wirkt außerordentlich gepflegt, denn draußen vor den Toren herrscht indisches Chaos. Wir knipsen was das Zeug hält. Als Symbol der Liebe zieht das Taj Mahal unzählige indische Liebespaare an. Viele Frauen tragen auffallend schöne Saris, um sich hier einem Fotoshooting hinzugeben. Die besten Fotospots sind dauerbelegt. Zum Sonnenuntergang versuchen wir das Taj Mahl von der gegenüber liegenden Flussseite im warmen Abendlicht zu erhaschen. Die Farbe des Marmors verändert sich in jeder Minute. Auf dieser Seite des Flusses wollte Shah Jahan der Symmetrie wegen noch sein eigenes Mausoleum – eine schwarze Version des Taj Mahal – bauen. Wir sehen nur die Grundmauern. Zu mehr ist er wohl nicht mehr gekommen. Jetzt liegt er neben seiner Frau in der Grabkammer. 

Das gemeinschaftliche Abendessen in unserem Homestay führt uns noch tiefer in die nordindische Küche ein. Vor allem vegetarische Leckereien bestimmen ab nun unseren Speiseplan. Paneer (indischer Frischkäse) Palak (Spinat) oder Paneer Butter Masala und Aloo Gobi (Blumenkohl-Curry) sind meine Favoriten, während Rolf auch auf Tandoori  Chicken Appetit hat. Butter Naan und Garlic Naan mit Raita werden unsere ständigen Begleiter. Das Kingfisher Bier, das nie auf der Karte steht und immer heimlich besorgt und verdeckt dargereicht wird, kommt mit Pappadams daher, sehr pfeffrig gewürztes knackiges Brot.

Ranthambore – ohne Tiger im Tigerreservat

Das Auffinden unserer Unterkunft gleicht einer Schnitzeljagd. Da sie unter dem gebuchten Namen weder auf Google Maps erscheint noch den Einheimischen bekannt erscheint, drehen wir mehrmals um, wenden, fahren in Sackgassen, fragen und fragen, doch ernten wir nur Schulterzucken. Schließlich entdecken wir ein kleines Hinweisschild, größtenteils verdeckt, an der Fassade selbst steht etwas anderes. Genervt frage ich an der Rezeption nach – wir sind richtig. Der Besitzer hat gewechselt – Aha … Auch so ein merkwürdiges Hotel mit einem Rooftop, das den Namen nicht verdient.

Am frühen Morgen wollen wir den Bengalischen Tiger sehen. Dafür sind wir schließlich hier. Mein dritter Versuch in Indien. Dass es nicht leicht würde, ist uns schon klar. Doch die Versprechen in Reiseführer und Internet sind groß, versprechen sie doch eine nahezu hundertprozentige Sichtung. Das beliebteste Tigerreservat Indiens war einst das Jagdrevier des Maharadschas.

In dem Jeep weht uns und den anderen indischen Gästen der kalte Wind vor Sonnenaufgang um die Nase. Über staubige, mit Felsbrocken und Schlaglöchern übersäte Pisten durchstöbern wir den trockenen Wald, die Graslandschaften und weite Ebenen vorbei an einem See, an dem wir einen Adler auf der Jagd nach Seeschlangen sehen. Immer noch gespannt auf den Tiger, der unserer Meinung nach gleich an der nächsten Kurve vor uns steht, können wir uns für seine Beute nur bedingt begeistern.

Axishirsche, Sambahirsche grasen, Wildschweine wühlen und wilde Pfauen durchstreifen die Savanne. Zwei Hirsche bieten sich eine Balzkampf mit ihren prächtigen Geweihen. Der Tisch ist reichlich gedeckt! Doch wo steckt er bloß? Unser Ranger lauscht auf die Warnsignale der Hirsche, die den herannahenden Tiger ankündigen. Doch nichts zu hören. Wer so friedlich grast, braucht wohl nichts zu befürchten. Obwohl sich die Fahrer hier auf der Route Nr. 4 stetig austauschen, zeigt sich der Tiger nicht. Nach ca. zwei Stunden rutscht unsere Laune in den Keller, zumal mein Rücken bei diesem Geruckele noch schmerzt.

Balu, der Bär

Auf dem Rückweg sonnt sich ein dickes Sumpfkrokodil am Seeufer. Na immerhin! Plötzlich stoppt der Jeep, der Ranger ruft „A bear!“ Tatsächlich sichten wir den ansonsten nachtaktiven schwarzen Lippenbär mit der Schnauze immer am Boden auf der Suche nach Termiten. Rudyard Kipling gab ihm in seinem Dschungelbuch den Namen Balu, der Bär. Wir erkennen sein dichtes zotteliges Fell und warten, dass er den Kopf mal für ein Foto hebt. Ständig ist etwas dazwischen. Natürlich freuen wir uns Balu mal persönlich gesehen zu haben, doch der Tiger fehlt. Am Ausgang erfahren wir, dass auch auf den Routen 1-4 heute keine Tiger zu sichten waren. 

Jaipur – kein romantisches Märchen in rosarot

Galta Ji Tempel (Affentempel) 

Auf dem Weg nach Jaipur liegt der Galta Ji, ein Tempel in der Hand von 5000 Affen. Leider vermittelt unser Fahrer uns einen Guide, den wir gar nicht wollen. Dieser Guide drängt uns zum Kauf von Erdnüssen, die er dann mit kleine Kunststückeinlagen an die Affen verfüttert. Im Nu hat Rolf den ein oder anderen Affen auf seiner Schulter oder auf seinem Kopf sitzen. Total bescheuert … so etwas machen wir nie mehr! An den Wänden und Fenstern, aus Luken und Löchern klettern Affen herum. Und wieder gibt es heiliges Wasser, das aus dem Berg kommend ein Becken speist. Und wieder werden Inder mit Bussen hierin gebracht, damit sie sich mit dem heiligen Wasser waschen können. Insgesamt wirkt der Tempel verwahrlost. Für uns des Besuchs nicht wert.

Galta Ji Tempel (Affentempel)

Am späten Nachmittag erreichen wir auf Umwegen die Hauptstadt Rajasthans. Die 3,5 Millionen-Stadt empfängt wie alle anderen indischen Großstädte. Hupen, Hupen, Hupen … verstopfte Straßen mit Kühen und Kamelen entlang der rosaroten Fassaden der Altstadt. Einst wurde die Stadt zu Ehren von Prinz Albert rosarot gestrichen. Daher der Name Pink City. Unser Hotel das Krishna Palace war bestimmt mal schön. Wie ein Haveli mit orientalischen Elementen, viel Marmor, doch alles verranzt und schmuddelig. Aus den Wänden schauen Kabel, die Säulen am Eingang werden gestrichen. Das Bad ist schmutzig, die Dusche hat zu wenig Wasser … schon wieder! Wir hoffen auf eine schöne Dachterrasse, doch auch sie gleicht mit ihrem Gerüst mehr einer Baustelle. 

Manchmal kann ich nicht mehr … Heute Abend habe ich großes Heimweh!

Aber Rolf und der nächste Tag lassen die Welt am nächsten Tag dann aber auch wieder besser aussehen …

Amber Fort

Unser Mr. Singh bringt uns am nächsten Morgen in die elf Kilometer entfernte Palastanlage von Amber (1552), die hoch oben auf einem steilen Berghang zu eines der schönstens Forts in Rajasthan zählt. Schon beim Hinaufgehen ist der Anblick grandios. Selbstverständlich werden wir nicht auf einem Elefanten hoch reiten, wie es viele Touristen trotz einschlägiger Warnungen bezüglich nicht artgerechter Haltung tun. Schlangenbeschwörer mit Kobras, selbsternannte Guides, Verkäufer aller Art, Musiker und andere Scharlatane versuchen ihr Glück, Touristen über den Tisch zu ziehen. Einmal „No“ reicht meistens nicht. Dann folgt Stufe zwei mit energischer Stimme „No means No“, und wir gehen weiter. Durch ein wunderschönes Ganesha Tor betreten wir den großen Innenhof des Forts und lassen uns treiben, während wir die aufdringlichen Händler abwimmeln. 

Amber Fort
Jal Mahan, der Wasserpalast

Nach einem würzigen Chai fahren wir für eine kurzen Fotostopp zum Wasserpalast „Jal Mahan“, der inmitten des Man Sagar Lakes liegt. Durch eines der terrakottafarbenen Tore gelangen wir in die Altstadt. Von dort ziehen wir alleine los in die quirligen Bazare. Häuser mit orientalischer Architektur mit ihren bogenförmigen Eingängen, ihren kleinen Fenstern und Kuppeldächern zwischen den Shops, die bunte Stoffe, Schmuck, Autoreifen, Obst und Gemüse, Teppiche, Götterfiguren, Pashmina Schals und knallbunte Saris verkaufen. Die Pakhoras am Straßenstand schmecken köstlich.

Hawa Mahal (Palast der Winde)

Dieses außergewöhnliche Bauwerk gilt als eine der Hauptsehenswürdigkeiten Indiens. Der rosarote Palast (1799) besteht nur aus einer Fassade mit 935 kunstvoll gestalteten kleinen Erkern und Fenstern für die Haremsdamen, die – ohne gesehen zu werden – die pompösen Umzüge verfolgen konnten. Durch die vielen Fenster geht immer ein kühles Windchen, woher sich der Name ableitet. 

Im kleinen Wind View Café gegenüber des Hawa Mahal genießen wir bei einem Lassi die Aussicht auf den Palast. Auf der Suche nach einem Restaurant wird mit Jaipur zu anstrengend. Dieser Lärm, das ständige Ausweichen vor Kuhfladen, Urin, Autos, Kühen, Tuktuks, der penetrante Gestank, der Smog … dann verliere ich in dem Gewühle auch noch Rolf, der immer noch zu Späßen aufgelegt ist. Ich will nur noch zurück in unser komisches Hotel. 

Pushkar

Nach dem stressigen Einstieg in Varanasi ist Pushkar Erholung. Für indische Verhältnisse ist es hier ruhig. Zwar nervt das Dauergehupe der Mopeds und Tuktuks in den engen Gassen, doch im Vergleich zu Jaipur und Varanasi ist hier noch Platz für unsere Beine. Wer Kleidung, Bücher, Teppiche und vor allem Schmuck shoppen möchte, ist hier genau richtig. In Lauras Rooftop Restaurant finden wir ein lauschiges Plätzchen mit Rundumblick auf den See, der von 52 Ghats umsäumt wird. Wie in Varanasi ist auch hier das Wasser des Sees heilig. Entstanden ist der See der Legende nach dadurch, dass der indische Schöpfergott, Brahma, auf einem Schwan fliegend drei Lotusblätter (Pushpa), die er in seine Händen (kar) hielt, fallen gelassen hat. An diesen drei Stellen entstanden Quellen, die den See bilden und so kam die Stadt zu ihrem Namen.

Bei der Umrundung des Sees müssen wir wie bei allen religiösen Stätten die Schuhe ausziehen. Auf heißen Steinen weiche ich den Kuhfladen und anderen Kackhäufchen aus. Am Ghandi Ghat waschen sich die Inder von ihren Sünden rein. Hier wurde einst  Ghandis Asche in den See gestreut. Auf dem Rückweg zu unserem Green Park Hotel streifen wir durch die schmalen Gassen, vorbei an Kühen und vielen Aussteigern, für die Pushkar wie Varanasi ein spiritueller Treffpunkt ist. 

Als der Kaffee am nächsten Morgen eklig schmeckt und die Toilettenspülung nicht funktioniert, ist meine Geduld am Ende. Wir ziehen um. Das halte ich hier nicht noch zwei Nächte aus! Im Netz sehen sie immer so anders aus! Rolf staunt nicht schlecht über meine Entschlossenheit. Auf der gegenüberliegenden Seite finde ich im Sajjan Bagh Resort ein gepflegtes und schön gestaltetes Resort, mit Garten, Pool und gemütlichen Zimmern für 2000 IR (24€). An unserer Rezeption verdeutliche ich, dass wir nur eine Nacht statt drei bezahlen. Der Manager lässt sich nach etwas Blabla drauf ein, wir packen und ziehen um. Manchmal muss man einfach rigoros sein und ein klares NEIN sagen.

Hier im Garten finden wir Muße zum Schreiben. Im Hard-Rock Café und im Om Shiva Garden Restaurant gibt es vom köstlichen Lassi bis zum kalten Bier, alles, was unser Herz begehrt. Das Cashewnut Curry schmeckt uns besonders gut. Wenn ich nur etwas Platz in meinem Rucksack hätte! Denn in Pushkar gibt’s Silberschmuck, Ledertaschen, Hippie-Kleidung, Tücher, Klangschalen, Götterfiguren und Deko für die Wohnung. Kinder und Frauen laufen uns hinterher, betteln uns an, sagen, dass sie in der Wüste leben, im Zelt, dass es hart sei, dort zu überleben. Sie bedrängen mich so sehr, halten mich am Arm oder reden auf mich ein, dass ich abgeneigt bin, etwas Geld zu geben. Von unserem Fahrer erfahren wir, dass manche Bettler lieber betteln als arbeiten. Von den Geschäften bekämen sie ausreichend zu essen, den Rest des Tages können Sie chillen. Arbeiten wollten sie gar nicht. Betteln wird in Indien scheinbar anders bewertet als bei uns. Nicht als Makel oder Abwertung. 

Hochzeiten sind auch in Indien ein Mega-Event. Besonders nachts trauen wir unseren Ohren nicht, welch laute Musik aus riesigen Boxen die gesamte Umgebung beschallt. Feuerwerk und Trommeln zusätzlich. Ich brauche unbedingt mehr Ohrenstöpsel. Indien ist und bleibt laut. 

Zum Savitri Tempel gibt es sogar eine indische Seilbahn, der ich nicht wirklich vertraue. Angesichts der fast 1000 Stufen nehmen wir die Bahn, die gemächlich nach oben zuckelt. Der starke Wind bringt die Kabine zum Schaukeln und mich zum Schwitzen. Die Bahn bleibt stehen. Ich mag diese Art Abenteuer nicht! … Tod durch abgestürzte indische Seilbahn! Nein, bitte nicht! Rolf bleibt cool. Oben haben wir eine fantastische Aussicht auf Pushkar, den See, die umliegende Bergkette und den Beginn der Wüste. 

Rajasthan,Teil 2, wird sich mit der Wüstenstadt Jaisalmer, den Tücken eines Kamel-Ausritts, Jodhpur und der letzten Station Udaipur inkl. Indischem Kochkurs beschäftigen …

Varanasi – Begegnung mit einer anderen Welt

Meine Idee, Rolf den Einstieg in Indien in der spirituellsten und heiligsten Stadt des Hinduismus so sanft wie möglich zu machen, verläuft doch anders als gedacht. Rolf hatte im Vorfeld gehörigen Respekt vor Indien. Vielleicht auch eine Mischung aus Angst und Neugier. Indien mit Varanasi zu beginnen ist die Feuertaufe. Wer das übersteht, den kann nichts mehr schocken. Horror oder Highlight. Wir werden sehen. Ich weiß noch nicht, wie er auf den Anblick brennender Leichen in aller Öffentlichkeit reagiert. 

Als Einstieg eine abendliche Bootsfahrt auf dem Ganges

Unser Fahrer entschuldig sich kurz für seine Verspätung am Flughafen mit „Crazy traffic in Varanasi“. Wir glauben es ihm sofort, als wir eintauchen in dieses Gewirr aus Rikschafahrern, LKWs,  Tuktuks, Kühen und weiteren Gefährten. Auf seiner Betelnuss kauend ist die Aussprache unserer Fahrers ungefähr so, wie wenn wir mit dem Wattebausch vom Zahnarzt im Mund versuchen zu sprechen. Am Straßenrand reihen sich Behausungen aus Planen aneinander. Dazwischen laufen schmutzige Kinder, Kühe, Schweine und Ziegen. Unfassbar wie und wo Menschen leben können. Wir wissen gar nicht, wo wir zuerst hinschauen sollen. Das Gehupe dröhnt unentwegt. Klugerweise hat das Hotel East View einen Bootsservice organisiert, so dass wir das letzte Stück durch das Altstadt-Labyrinth auf dem Ganges mit ein paar Franzosen, die bereits etwas ängstlich dreinschauend im Boot sitzen, umgehen. 

Was für ein Service! Mal gleich zum Sonnenuntergang eine Bootstour auf dem heiligen Ganges! 

„Hotel East View is situated on SCINDIA GHAT. This ghat was built by the MAHARAJA SCINDIA. One of the cleanest and beautiful ghat, amongst all ghats in Varanasi.“ (Homepage des Hotels)

Als wir die Treppen des Ghats zum Hotel hochsteigen, umgibt uns ein extrem beißender Urin-Geruch. Willkommen Varanasi… Hm, so riecht es hier also an den Ghats! Ein langer Tag liegt hinter uns. Erschöpft betreten wir das Zimmer, das mal wieder wie so oft, nicht den Bilder auf der Buchungsplattform entspricht. Ohne Fenster? Sieht aus wie im Keller. Das soll eine Suite sein? Für über 70€ pro Nacht? Hier soll unser Ruhepol sein? Oh shit! Der Manager erklärt uns „Give me 12 hours, than you can change!“ Okay, Indien, du hast noch ein paar Chancen! Das Restaurant auf dem Dach bietet uns für den Abend ein scharfes Essen. Sogar Bier gibt es auf Nachfrage. Strong Kingfisher… hat mehr Alkohol und wirkt! Auf der Karte darf es nie stehen und taucht auf keiner Rechnung auf. Wieder was gelernt. Der Umzug in die Suite in der dritten Etage bietet einen wunderbare Aussicht auf die Ghats samt Ganges, besonders morgens, wenn der Frühnebel die mystische Atmosphäre verstärkt. Auch hier ist das angepriesene Wifi zu schwach und die Minibar leer. Dass das Frühstück für über 70€ nicht inklusive ist, erfahren wir erst am letzten Tag. Wir ärgern uns, dass wir dieses Hotel gebucht haben. Entspricht eigentlich so garnicht unserem Budget.

Für gläubige Hindus ist eine Pilgerfahrt nach Varanasi am heiligen Ganges ein Muss, um im heiligen Wasser des Ganges zu baden und den „Goldenen Tempel“ Kashi Vishwanath, der dem Hindu-Gott Shiva gewidmet ist, zu besuchen. Infolgedessen reisen Hindus aus der ganzen Welt nach Varanasi, insbesondere, wenn sie krank sind oder im Sterben liegen. Die spirituelle Hauptstadt Indiens ist bekannt für ihre Bestattungsrituale am Manikarnika Ghat. So wollen auch wir uns ein Bild von den Ghats machen. Wegen der vielen Kacki, Pipi und Spucki lasse ich meine Trekkingschuhe besser an. Rolf hat da mit seinen Flipflops weniger Berührungsängste.

Doch vorher erwartet uns noch eine andere Hürde: die SIM-Karte. In keinem anderen Land auf unserer bisherigen Reise haben wir es so kompliziert erlebt. Erforderlich sind zwei Passbilder, Reisepässe, eine Buchungsbestätigung vom Hotel, eine Referenznummer aus Indien, Formulare und eine hilfsbereite Inderin im Vodafone Shop, der – wie sollte es anders sein – eine 30minütige Tuktukfahrt  durch Varanasis Chaos erfordert. Selbstverständlich kann die Karte nicht direkt aktiviert werden. Das dauerte so zwischen 24 Stunden und drei Tagen. Und morgen ist auch noch Sonntag! Frühestens am Montag sollen wir noch beim Provider anrufen, Fragen beantworten, damit sie verifiziert werden kann! Was ein Prozedere! Anschließend sind wir reif für eine Ruhepause in Marks Café. Nervlich wieder gestärkt treten wir den Weg über die Ghats an, beginnend mit dem Assi Ghat. 

Die Ghats – farbenfroh, gespenstisch und heilig

Die über 80 Ghats – Badetreppen – ziehen sich über 5 km am Südufer des Ganges entlang. Hier spielt sich das spirituelle Leben ab. Die Ghats prägen diese Stadt. Sie werden eingerahmt von prächtigen alten Kaufmannshäusern und Villen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Dass Varanasi (11. Jh. v. Chr.) zu den ältesten Städten auf dieser Erde  gehört, wusste ich vorher auch nicht. Auf Dreitausend Jahre Geschichte kann diese Stadt zurückblicken. Die Altstadt ist so richtig alt. Mittelalterlich alt. In ihr spürt man, wie die Menschen früher gelebt haben, als es noch keine Fahrzeuge gab.

„Benaras is older than history, older than tradition, older even than legend and looks twice as old as all of them put together.“

Mark Twain

An den Bade-Ghats wirkt es am Sonntag wie bei einem Familienausflug. Kinder, Omas und Opas, Mütter und Väter… alle waschen sich im Ganges und opfern am Abend Girlanden und schwimmende Kerzen. Für uns ist ein Bad im Ganges angesichts der Verschmutzung so unvorstellbar wie die Besteigung des Mount Everests. Die Anzahl der Coli-Bakterien übersteigt das 100fache des Grenzwertes. Doch das Ganges-Wasser ist den Hindus so heilig, dass sie es in Kanistern mitnehmen, es trinken und ihr obligatorisches Bad darin nehmen, um sich von ihren Sünden rein zu waschen. 

Die bunten Saris, die auf die Stufen zum Trocknen liegen, bilden ein fantastisches Farbspiel. Wohl bemerkt, gewaschen werden sie in dem schmutzigen Wasser des Ganges. 

Die Verbrennungs-Ghats

Für die Verbrennung von Leichen gibt es zwei Ghats, das Marnikarnika Ghat und das Harishchandra Gaht. Wird ein gläubiger Hindu hier verbrannt, kann er von dem Kreislauf der Wiedergeburt (Moksha) erlöst werden. Folglich strömen sterbebereite Hindus nach Varanasi und warten hier auf ihren Tod. Ihre Familien folgen hinterher, wenn es soweit ist. Ein Leichenverbrenner zeigt uns, wo wir uns aufhalten dürfen, um die Familienangehörigen nicht zu stören.  Wir schauen auf das Totenfeuer. Der Körper liegt auf dem Scheiterhaufen und brennt. Asche fliegt herum. Das passiert hier jeden Tag an 365 Tagen im Jahr. „Das ist mein Beruf. Schon in der 7.Generation. Ein trauriger Beruf …“ fährt er fort. 

Sandelholz für die Verbrennungen

Drei bis vier Stunden dauert die Verbrennung einer Leiche, wofür ca. 350 kg Sandelholz benötigt werden. Das kostet die Familie ca. 7000 Rupien. Wenn Familien arm sind, können sie für 1000 Rupien den Leichnam im Krematorium verbrennen lassen. Auf einer Bambusbahre wird der in orangefarbenen Tüchern gewickelte Leichnam zum Fluss getragen. Dort werden ihm die Füße mit dem heiligen Wasser gewaschen. Fünf Mal bekommt er Ganges-Wasser in den Mund gefüllt. Der älteste Sohn umrundet den Leichnam auf dem Scheiterhaufen und zündet ihn an. Bevor die Asche an Mama Ganga übergeben wird, wird noch Zahngold und andere Edelmetalle herausgesiebt, um damit ggf. das Holz zu bezahlen. Ich schaue in die Gesichter der Angehörigen, sehe jedoch niemanden weinen. Sie stehen still am Geländer und schauen andächtig zur Verbrennungsstelle. 

Die heiligen Kühe und Ziegen laufen weiter ihrer Wege, machen hier und da ihre Häufchen. Kinder lachen und lassen kleine Drachen hoch in die Luft steigen. Andere spielen Cricket. 

Am Marnikarnika Ghat sind die Rauchwolken allgegenwärtig. Hier gibt es wesentlich mehr Verbrennungsstellen. Vom Boot aus sieht es gespenstisch aus. Die verfallenen Gebäude, die Stapel von Holz, die überall zum Verkauf dargeboten werden, die Leichen in orangefarbenen Tüchern auf den Verbrennungsstätten, die blumenfressenden Kühe, die spielenden Kinder, Asche in der Luft …alles nah beisammen und so normal. Sterben ist hier öffentlich. 

Während ich dem Karma-Gedanken gegenüber sehr positiv eingestellt bin, kann ich der Idee der Wiedergeburt nicht ganz folgen. Als ein anderer Mensch wieder geboren zu werden oder gar als Tier oder Pflanze ist mir fremd. Die Kastenzugehörigkeit bereitet mir mehr Probleme, denn Armut, Behinderung oder Krankheit werden dadurch gerechtfertigt.

Aussteiger Fake-Sadhus

Die Sadhus, die entweder in Rot-Orange oder halbnackt in der Nähe von Tempeln in der gleichen Pose sitzen, geben Rolf Rätsel auf. Losgelöst von der materiellen Welt, leben sie völlig asketisch der Erleuchtung entgegen. Mit entrücktem Blick sitzen einige Sadhus in ihren selbst gebauten Zelten, reiben ihren Körper mit der Asche der Totenfeuer ein und rauchen Ganja (Marihuana), um besser meditieren zu können. Vermutlich hilft es auch dabei, den ganzen Tag in der gleiche Position zu verharren. Sie bekommen milde Gaben von den Gläubigen. Wenn du sie fotografieren möchtest, wollen sie Geld von dir (500 IR/6€). Komisch, oder? Wo sie doch alle weltlichen Besitztümer aufgegeben haben. Alles klar, das sind keine echten Sadhus, das sind Fake-Sadhus. Die Echten leben isoliert  in einer Höhle in den Bergen. Da sie einfach gute Portätsfotos hergeben, schleiche ich mit meinem Teleobjektiv um sie herum und erhasche das ein oder andere Porträt.

Ab von allem Weltlichen – is klar …

Die Aarti Zeremonie zur Ehrung von Mutter Ganga

Zur Zeremonie Ganga-Aarti am Dashaswamedh Ghat fahren wir zum Sonnenuntergang mit dem Ruderboot. An den Ghats entlang zu fahren hat etwas mystisches. Wir zünden Schwimmkerzen für meine Papa und Rolfs Mutti an, übergeben sie an Mutter Ganga.

Am Manikarnika Ghat drängen sich die Boote voll mit Touristen. Dass die Leichenverbrennung so zur Touristenattraktion wird, wusste ich auch nicht. Am Ghat reihen sich schon unzählige Boote vor das Ufer. Die Treppen am Ghat sind komplett mit Menschen ausgefüllt. Alle wollen sie an der Zeremonie teilnehmen. Sieben Brahmanen leiten durch die Zeremonie. Während sie Mantras singen, werden Feuerstäbe und Rauchgefäße im Rhythmus dazu bewegt. Als ich sehe, wie unser Bootsmann mit der Hand etwas holy water zum Mund führt und trinkt, verschlägt es mir die Sprache.

 Wir müssten doch sofort vom Arzt behandelt werden. Das Wasser ist nicht nur schmutzig, es ist voller Coli-Bakterien, deren Anzahl den Richtwert bis zu 3000fach übersteigen. Ob Narendra Modis „Clean India“-Kampagne Wirkung zeigen wird? 

Rolf bleibt am Bug, um besser fotografieren zu können. Da ich einen Horror davor habe, in den Ganges zu fallen, bleibe ich besser hinten auf der Bank sitzen. Die Atmosphäre hier ist unbeschreiblich. Wie andächtig die Menschen dieser Zeremonie beiwohnen, beten, singen, inne halten.

Um unseren Sinne eine Pause zu gönnen, verkriechen wir uns an einem Nachmittag im Aadha-Aadha-Café, das hoch oben auf einer Dachterrasse köstliches Essen bietet. Die französische Besitzerin verwöhnt uns mit guten Service, einer sauberen Toilette und einer französisch-indischen Küche mit Lassi und Käsekuchen. 

Chaos am Shiva-Day

Vom Shiva-Day und vom Mahashivaratri-Festival haben wir noch nie etwas gehört. Dass unser letzter Tag genau deswegen extrem anstrengend werden würde, ahnen wir noch nicht. Nach einem eher ruhigen Vormittag im Aardhi-Aardhi-Café beginnt das Chaos bei der Suche nach einem ATM. Durch das Gassen-Labyrinth gelangen wir ja noch zur Straße, doch dort trauen wir unseren Augen nicht. Tausende Inder stehen in einer mit Holzbohlen abgesperrten Reihe in der Sonne und warten. Nur auf was? Keine Autos und keine Tuktuks. Trotzdem ist alles voller Inder und Kühe. Voller geht’s kaum noch. Im Slalom wurschteln wir uns durch, stellen uns in die Schlange am ATM. Um uns herum tobt das Chaos. Einige Polizisten versuchen hier für Ordnung zu sorgen. Wir verstehen nur, dass heute Shiva-Day ist. 

Am Tag von Mahashivaratri, dem Hauptzentrum für religiöse Aktivitäten und Verehrung in Varanasi, ist der Kashi Vishvanath-Tempel, in dem sich die Anhänger in großer Zahl drängen, um der dort lebenden Gottheit von Varanasi, Lord Shiva, Gebete zu bringen. (https://www.varanasicity.com/mahashivaratri.html

Weiter geht’s, an den langen Schlangen vorbei Richtung Hotel. Rolf navigiert in der höchsten Stufe! Wie sollen wir denn bloß zum Bahnhof kommen, wenn hier alles abgesperrt ist?

Mit dem Boot über den Ganges oder zu Fuß mit Rucksack zur Straße und weiter mit dem Tuktuk? Die zweite Variante wird’s. Nur noch raus aus diesem Chaos! Jeder Meter zählt! Kriechend kommen wir voran. Hupen, Hupen, Hupen … wir können nicht mehr! Mein Rücken schmerzt. Ich habe gelernt, hier ganz klar und deutlich zu formulieren, was ich möchte, sonst bist du hier verloren. So auch jetzt: „You stop at the Vodafone Shop and wait!“ Unsere SIM-Karten müssen noch freigeschaltet werden … endlich, die freundliche Inderin schafft es! Auf zum Bahnhof ins nächste Abenteuer … der Nachtzug nach Agra! Großes Kompliment an Rolf, der Varanasi mit Bravour gemeistert hat.