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Ein Dorf im Dschungel

Ein Gastbeitrag von Jürgen Wojke

Kalkutta, Weiberfastnacht 2019

Es zwitschert. Nach der regnerischen Nacht taucht die Morgensonne unser Viertel in milchiges Licht.  Die weitläufige Wohnung offenbart nun doch eine gewisse Freundlichkeit. 

Bei der Ankunft im Dunkeln am gestrigen Abend empfand ich unser neues Domizil für die nächsten 7 Tage zunächst als bedrückend mit seinen matten Farben und Formen.  Relikte erstarrten künstlerischen Lebens. Vielleicht war es auch der Müdigkeit und Erschöpfung geschuldet.

Überall Bilder und Stoffe aus einer Epoche der 60er. Schon an der Haustür empfing uns ein Plakat des 23. Filmfestivals von Kalkutta von November 2018, in das die Besitzer dieses Hauses oder der Wohnung involviert zu sein scheinen. Die Möbel dunkel und spartanisch, verlieren sich in den riesigen Räumen, an deren Decken 10 alte  vergilbte Ventilatoren dafür sorgen, dass sich die Schwüle besser verteilt. Noch sind sie aus, denn perfekte 22°C sind das angenehme Nebenprodukt einer großzügigen  Regenfront.

Kalkutta ist nach Delhi, die zweite Station des 5wöchigen Urlaubs und beide Städte sind für mich Neuland. Neuland ist auch Saskia, die ich schon 2 Monate nicht sah, was in dem kurzen Leben eines Mannes mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 78 Jahren (EU-Bürger) schon eine messbare Größe in einer farbigen Zeitstrahlgrafik  wäre. 

Aber den zeitweiligen Verlust glich das elektrisierend wuchtige Wiedersehen vor dem Delhi-Terminal einige Nächte zuvor mehr als aus. Die letzten Twittereien vor meiner Kontinentenüberquerung widmeten sich überwiegend der Frage, ob der indische Verhaltenscode, eine heftige Umarmung oder gar weltvergessene Küsse zulässt. Tut er nicht oder nur um den Preis größer öffentlicher Aufmerksamkeit und möglicher polizeilicher Ermahnungen. Extase inside please! 

Glück kann sich dermaßen verdichten, genau wie Geschichte in Momenten von Revolutionen, Atombombenabwürfen, Staatsstreichen oder um noch was geschichtliches Schönes anzuführen, das plötzliche Ende von Diktaturen oder dem Auftauchen von Grete Thunberg. 

Auch die Hauptstadt selbst war aufregend mit ihrer Mischung aus Moderne, bäuerlichem Mittelalter und Vorindustrialisierung, verzweifelter schmutzigster Armut, selbstzufriedenem mittelständischem Wohlstand und arroganter Abgehobenheit der Eliten. Der Duft, die quirlige Geschäftigkeit in jeder Pore des Molochs Delhi, bei der selbst das „h“ steht, wo man es nicht vermutet.

3 Tage später. Der Anflug auf die nasse Metropole Kalkutta war aufregend. Im sattgrünen Umland schien alles unter Wasser zu stehen. Die Wolken verdichteten sich zu einer dunklen schwarzen Wand 

Der Flieger trudelt durch das Inferno, wird hin und her geworfen. Um uns herum grauschwarzes Dunkel. Die Ohren melden unheimliche dumpfe Stille. Wir verlieren geplant an Höhe und setzen trotz der Böen erstaunlich elegant nahe am Terminal auf. 

Der erwartete und nun entfesselte Regensturm treibt die Wassermassen über das in schwarzes Theaterlicht getauchte Flugfeld. Dazwischen Blitze. Wir stehen in unserer warmen Delhi-Februar-Kleidung auf der indigofarbenen Gangway in feuchter Schwüle und warten auf den Transfer-Bus. Eine kurze Fahrt. Wir sind am freundlichen Terminal, ein kurzer Weg und das Gebäckband 3, es wurde im Flieger schon vorausschauend wie immer als unser nächstes Ziel genannt, ließ alle Koffer der bunten Reisegesellschaft des Fluges W 233 vor unseren Augen karussellieren.

Vor dem Gebäude das übliche Airport-Gewimmel aus Fahrgäste suchenden Taxisten, Hotelboten, Freundinnen und Angehörigen der Ankommenden. So schnell wie das Unwetter gekommen war, überließ es den nassen Flughafen nun der warmen Nachmittagssonne für kurze Zeit. Saskia organisierte ein Prepaid-Taxi. 

Der ärmlich wirkende junge Fahrer lud unsere 3 Gepäckstücke in den rostigen Kofferraum des alten gelben Taxis aus der Kolonialzeit. Er ließ sich telefonisch von unserer Vermieterin kurz den Weg auf die andere Seite der 20 Millionen Metropole beschreiben und fuhr los.

Ich fragte mich derweil, warum wir immer die kühnsten Draufgänger mit den klapprigsten Fahrzeugen bekommen. Er entschied klar jedes Rennen in dem chaotischen Gewühl aus Blech und Menschen in der kommenden spannenden Stunde für sich, bog unvermittelt von den Hauptverkehrsadern ab, raste durch enge unübersichtliche Shortcuts, um sich in der nächsten Avenida sofort wieder zu erobern, als wenn wir zur Entbindung müssten. 

Wir fühlten uns angstfrei und gut aufgehoben, da alle Sinne des Profis am Steuer konzentriert zusammenarbeiten, er zielstrebige Ruhe verströmt und das dicke Blech aus des alten englischen Taxis, herkömmlichen Knautschzonen überlegen scheint.

Der Regen hatte wieder eingesetzt, die Dunkelheit auch. Der kleine Scheibenwischer arbeitete hektisch auf der gesprungenen Frontscheibe. Angenehm kühl tropfte es mir  aus dem Motorraum auf die Thrombosestrümpfe, die samt Füßen in Trekkingsandalen steckten. Ein echter Anblick.

Wir durchquerten eine Stunde lang diese grüne Oase. 2-5stöckige verwohnte und vom Monsun eingegraute, vermooste Wohnhäuser, mit praller Geschäftigkeit im Erdgeschoss und in unzählbaren Läden mit Anbietern aller erdenkbaren Dienstleistungen und Waren.

Irgendwie, wie ein unendliches Ehrenfeld, nach dem Zusammenbruch  der Kölner Stadtverwaltung und einer unfähigen Politik, die vor den Anforderungen der Zeit und der periodischen Feuchtigkeit kapituliert und den Menschen der Stadt die Initiative überlassen hat. Außer Moosgrün, grau und schwarz sind alle Wandfarben ausgegangen. Aber sonst gibt es alles und irgendwie geht es immer weiter. 

Alles von Menschen zusammengemauert und Gezimmerte lebt in harmonischer Symbiose mit einer üppigen tropischen Flora und wehrt sich schon im Entstehen  nicht gegen seine fortwährende Zersetzung durch Moose, Schimmelpilze, Autoabgase und den allgemeinen Schlendrian. 

Manchmal erhebt sich die Straße über die Unendlichkeit aus Bäumen und Häusern und überquert Bahngleise oder andere Verkehrsachsen.

Uns erstaunt eine kollektive Anstrengung aller Fahrerinnen und Fahrer um die Stadtluft Kalkuttas zu verbessern. Sie schalten bei jeder Ampel und jedem Halt den Motor ihrer Fahrzeuge aus, sofern es nicht automatisch geschieht. Für mich eine bewegende Initiative in diesem 20 Millionendorf. 

Eine weitere bewegende Beobachtung ist die Liebe zum Grün und die Fürsorge für Vögel und Hunde. Wo ein Pflänzchen wächst, wird es gehegt, selbst wenn es dann 30 Meter Höhe erreicht. Überall auf den Bürgersteigen sprießen Bäume aus den zerberstenden Steinfließen und zwingen die Bewohner auf die Fahrbahn. Häuser werden um Bäumer herum gebaut und in den Dächern werden Öffnungen für die Stämme gelassen. 

Noch ganz gefangen im großen Staunen, biegen wir plötzlich an einer kleinen Filiale der Syndikat-Bank in ein bürgerlich  wirkendes Viertel ein und stehen 2 Minuten später vor unserem jetzigen Zuhause. 

Im Parterre befindet sich ein Paketversand, in dem sich zahlreiche in weiße Säcke eingenähte Warensendungen zu Haufen kuschelig zusammengefunden haben. Eine ausschließlich Hindi sprechende kleine freundlich aber energische Dame ruft aus dem 1.Stock, dass wir hinauf kommen sollen. Unser junger Fahrer hilft uns mit dem Gepäck und wir „checken“ ein.

„Und wenn dat Trömmelsche jeht, dann stonn ma all parat…“ werden am Alter Markt, die ersten Jecken aus heiseren Kehlen dem schlafenden Kölle zujesungen haben, als wir uns gegen 9 Uhr von unserem harten Lager erheben. Der indische Mensch liebt es hart im Bett, warum auch immer. 180 Quadratmeterwohnung, 10 Ventilatoren, 2,50 Meter breite Matratze, aber hart soll sie sein, wie ein Brett mit Decke drauf. 

Am Vorabend sind wir auf der Suche nach etwas Essbarem im 4. Stock einer Shopping-Mall gelandet, die wie ein steriler glitzernder Fremdkörper aus dem natürlich gewachsenen grünen Viertel ragte. 

Zuvor suchten wir in der Umgebung unseres Stadtteils ein kleines Restaurant. Aber wir fanden keins, nur unzählige Essensstände mit Street-Food. Als wir sahen, dass jemand den Topf in einer Pfütze spülte, fühlten wir uns dafür noch nicht bereit und entschieden uns für die Mall.

Unerwartet lecker und nicht überteuert wurden neben Kentucky Fried Chickens  knusprigen Hühnerleichenteilen auch landesübliche Gerichte wie Birjani, eine würzige Reisspeise mit Nelken, Kardamonkapseln und Sternanis  und Dal das überall präsente Linsengericht, angeboten und zum ersten Mal in my live probierte ich, im Gegensatz zu den meist geschmacklosen Eiweißwürfeln aus Sojabohnen, erstaunlich leckeren Tofu. Er hatte die Form und Konsistenz von Mozzarella und ihm fehlte die typische Tofu-Penetranz. 

Im Keller fanden wir einen Supermarkt mit der größten Personaldichte auf dem Subkontinent. Dutzende junge Verkäufer standen ohne wirkliche Aufgabe zwischen den Regalen des Selfservicebetriebs, griffen wahllos in die Regale und Tiefkühltruhen, nahmen gefrorenen Tintenfisch, eingepackte Tomaten oder Ketchup  und priesen es uns an. Für uns, aus einer Rewe- und Aldi-Welt Kommenden eine neue Erfahrung.

Saskia war nach 8 Wochen des Verzehrs der Nr.128, Vegetable Curry nach königlicher Art, heiß darauf, mal wieder Pellkartoffel mit Quark oder Spagetti Olio-Aglio zu probieren und so waren wir glücklich nach einer Weile mit den erforderlichen Zutaten den Laden zu verlassen, nicht ohne dass ein Wachtposten nochmal überprüfte, dass wir nur die 5 Teile im Beutelchen hatten, die auch auf der Rechnung standen. 

Gegen 11 Uhr am heutigen Morgen, der Alter Markt müsste sich schon mit Frohsinn gefüllt haben, nahmen wir ein Taxi zum Office der Jet Airways in der  7 km entfernten Park Street. 

Die Airline hatte uns am Dienstagabend um 19 Uhr, als wir grade mit der Kleider- und Schmuckhändlerin Lori aus Dunkerque am nordfanzösichen Atlantik in einem Rooftop-Restaurant Vegetable Curry aßen, über eine SMS den Kalkutta-Flug für den nächsten Nachmittag gecancelt und uns eine 2tägige Indienrundreise über Mumbai als Alternative angeboten, die dann auch letztlich in Kalkutta enden würde, die allerdings schon in 11 Stunden am nächsten Morgen um 6 beginnen sollte. Als Hintergrund wurden Sperrungen des Luftraums wegen der Bombardierung von Separatisten in Kashmir, aber auch die finanzielle Schieflage von Jet Airways genannt. 

Wir buchten spontan bei der Indigo- Airline um so ohne Rundreise in 1 Stunde und 40 Minuten zu einer menschlichen Nachmittagszeit ins nahe Kalkutta zu gelangen. Nun versuchten wir von Jet Airways den Ticketpreis zurückzubekommen. Vielleicht mit Erfolg, wie sich noch herausstellen muss.

„Kalkutta liegt am Ganges, Paris liegt an der Seine…..“ dudelt Vico Torriani aus Rolf‘s JBL-Box. In der Nacht sind  Eve und Rolf unsere medientechnisch hochgerüsteten Weltreisenden mit einem Tag Verspätung angekommen und haben nun unsere Möglichkeiten der Orientierung, Zielfindung, Musik- und Filmverfügbarkeit und des Infozugriffs enorm ausgeweitet. 

Die Wiedersehensfreude mit den beiden  war riesig und wir erzählten bis in den frühen Morgen. Erstaunlich war aber auch die Tatsache, wie schnell es uns so normal vorkam, dass sie wieder da sind.

Nun  sitzen wir also auf der kleinen andalusisch-blumenbestandenen Außenterrasse unter dem Mangobaum, der den Innenhof, den die benachbarten mehrstöckigen gepflegten Häuser bilden, überspannt. Wir hören italienische Schlager aus den 60ern, nachdem  Saskia‘s Mutter im zuvor geführten Telefonat in die Klinik von Volmarstein, (hier gab‘s ein neues Knie) dieser Song einfiel und damit das Stichwort zu dem Torriani-Evergreen gab. 

Hinter uns liegt ein anstrengender Erkundungstag. Zu Fuß von unserem Lake-Garden-Viertel zur lokalen Bahnstation, dann um den See, der dem „Lake Garden“ – Viertel den Namen gab zur einzigen Metro Kalkuttas, die die Stadt von Süden nach Norden durchkreuzt. 

Eine Diskussion mit 4 Männern, welche Station am nächsten zum Hoogli-Ufer, einem Gangesarm liegt. „Mahatma Ghandi“ ist der Kompromiss, auf den sie sich einigen.

Die Metro füllt sich, umso weiter wir in den urbanen Norden kommen. Die Luft ist frisch. Viele Plätze sind für Frauen und Senioren reserviert. Wir steigen aus der U-Bahn und finden uns in absoluter Geschäftigkeit wieder, im großen Basarviertel an der Horwrah-Brücke, wie wir später herausfinden. Hier beziehen die Einzelhändler Kalkuttas ihre Waren her und so sieht es auch aus.

Verschwitzte teils ausgezehrte, teils auch kräftige Männer in kurzen Hosen oder Dotis, den auch in Tamil Nadu gern getragenen Wickelröcken, mit Kisten, Ballen und Paketen auf dem Kopf, Fahrrad-Rikschas mit eleganten Fahrgästen, aber auch vereinzelte von Menschen gezogene Rikschas ziehen an uns vorbei. 

Wir wollen mehr von diesem Indien-Extrakt,  drängen uns durch den Strom hupender Autos, Laster, Busse und Mopeds auf die andere Seite einer breiten Straße in eine Gasse. Überall Lastenträger in Reihe hintereinander wie Blattschneideameisen winden sich durch die menschenvollen Straßen. Dazu bahnen sich  hochbepackte Fahrräder, Karren, und undefinierbare Gefährte ihren Weg. Verstaubte martialisch anmutende riesige Laster werden entladen.

 Rechts und links kleine Läden mit Obst und Süßigkeiten in baufälligen 5stöckigen Häusern aus viktorianischer Zeit, die Mauern teilweise abgestützt. Eine „The Day after“-Atmosphäre oder auch eine Zeitreise ins New York, London oder Hamburg um 18hundert. Wir trinken heißen Milchtee aus Einweg-Ton-Gefäßen an einer Ecke, die am matschigen Boden ihr Ende findet.

Unendliche Lagerräume erstrecken sich wie Termitenbauten in den Erdgeschossen baufälliger mehrstöckiger Häuser aus der Kolonialzeit.

 Stoffe, Früchte, undefinierbare Waren werden in großen Mengen eingelagert, um gleich wieder portioniert in den Besitz kleiner Händler zu wechseln. Der Duft von Räucherkerzen, Gewürzen, Garküchen mischt sich mit Spuren von Urin und den Abgasen der wendigen Motorräder. 

Alles ist unwirklich für westliche Augen. Über mehrere 3 spurige Straßen, die auf der Howrah-Brücke zusammenfinden und den ungeduldigen Verkehr darauf  zu führen versuchen, gelangen wir mit Mühe  an das Flussufer. 

Hier ist Ruhe. Männer in fleischfarbigen halbtransparenten Unterhosen oder hochgezogenem Wickelrock und Frauen in Saris waschen sich im schlammigen graubraunen Hoogli-Wasser. Es wird heilig sein, wie das, des Hauptstromes „Ganges“. Wir knipsen uns vor der Howrah-Brücke, die beide Kalkuttahälften verbindet.

In der gesamten Metropole scheinen sich nur sehr wenige westliche Menschen, bzw. überhaupt Touristen aufzuhalten. So fallen uns 2 chinesische ältere Paare auf, die sich sicher in diesem Ambiente in das alte China zurückversetzt fühlen und vielleicht mit der rasanten Entwicklung in ihrem Land vor Augen denken mögen, „was nützt mir die Demokratie, bzw. das Wahlrecht, wenn es dann so aussieht?“

Parallel zum Flussufer verlaufen Schienen. Der regelmäßig verkehrende Zug macht sich durch eindringliches Hupen bemerkbar und passiert diese Strecke mit großer Vorsicht im Schritttempo, um die vielen Frauen, Männer und Kinder, die die Gleise  ständig bevölkern, nicht zu gefährden. 

Eine Bahnstation am Fluss heißt „Garden Eden“ Hier wohnen viele Menschen direkt an den Gleisen in Verschlägen aus Pappe, Decken und Plastik. Halbnackte Kinder spielen wie selbstverständlich zwischen den Schienen, als wäre es das Bällebad eines Möbelhauses. Dieser „Garten Eden“ ist auch eine der ersten Stationen der Menschen, die vom Land vertrieben wurden und nun versuchen, hier neu anzufangen. Für manche auch die Letzte.

Wir laufen über von nicht zu verarbeitenden Eindrücken und Gefühlen, Stimmen, Geräuschen, Farben, Hupen, Düften und Undüften, von schönen Bildern und Unfassbarkeiten. Wir müssen da raus, aber das ist nicht so schnell zu machen.

Das viele Quadratkilometer umfassende urbane Zentrum der Metropole lebt in nicht gekannter mehrdimensionaler Intensität. Viele Häuser, aber auch die Bürgersteige, die Wasserrohre,  die Stromkabel, die Abwasserrohre, die Verkehrsschilder scheinen im Verfall begriffen, und werden einzig durch den Willen der Millionen Menschen, sich hier tagtäglich zu behaupten versuchen, und durch das Wurzelwerk unzähliger Bäume zusammen gehalten.

Hunderttausende Zuwanderer aus dem Umland kampieren auf den Bürgersteigen im  Zentrum, errichten dort Hütten in Sichtweite des Regierungssitzes, ziehen Mauern hoch, die sie mir Blech und Plastik gegen den tropischen Regen und die Sonne bedecken und versuchen sich in dieses filigrane Räderwerk einzufädeln meist durch einfachste Dienstleistungen.

 In jeder Nische, in winzigen Räumchen, Eckchen, Lücken, sitzen Köche, Händler und Handwerker im Schneidersitz zwischen ihren dampfenden Töpfen, aufgerollten Stoffen, offenen Farben, sauber gestapelten Zahnrädern, sorgsam aufgetürmten Obst und Gemüse und versuchen, dem Stoffwechsel menschlichen Lebens sicherzustellen und ihm dabei ein Quäntchen abzugewinnen, das für sie und ihre Lieben für das kleine Glück reicht.

Mehrfach erinnere ich mich an die Schusterwerkstatt meines Vaters in Quettingen, die dicken  Schichten getrockneten Leims  auf dem Arbeitstisch, den abgegriffenen Werkzeugen, dem Klebstoff-, Staub- und Ledergeruchs, dem Chaos, hinter dem sich eine für mich nicht erfassbare höhere Ordnung verborgen haben muss, da das Ganze 30 Jahre funktionierte und ihn und uns ernährte.

Wir orten eine Art „Lommerzheim“ mit Hilfe von Google, eine Rarität in der Stadt der Garküchen, in der man in wenigen Minuten im Stehen das Essen auf dem Bürgersteig runterschlingt. Hier können wir endlich einmal sitzen. Freundliche Kellner umsorgen die Gäste in der Geschwindigkeit Kölner Brauhäuser, nur freundlicher. Wir schlagen uns den Bauch mit Biryani, gut aufgegangenem Garlic-Naan und weiteren Köstlichkeiten voll. Bier und Wein gibt es nie, in dem Land, das wie Schweden, den Alkohol in vergitterte Shops verbannt hat und nur auf Dachterrassen-Restaurants in touristischen Regionen eine Ausnahme gestattet. Ein Taxi bringt uns  in unser „“ruhiges“ „Lake Garden“. Wir „crusen“ noch einige Tage durch diese besondere Stadt, lernen mit der S-Bahn auch moderne Viertel in der Peripherie kennen und dann sind die 7 Tage plötzlich um und wir müssen weiter. Auf uns wartet  Chennai.

Ich bedauere sehr, dass wir uns nicht mehr Zeit für unsere prominente Gastgeberin genommen haben. Als Organisatorin bedeutender Filmfestivals, befreundet mit bekannten Schauspielern und bedeutenden Regisseuren, vielfach mit ersten Preisen ausgezeichnet, hätte sie uns direkten Zugang zum modernen kulturellen Indien erschließen können. 

Vielleicht war alles auch zu viel in 7 Tagen, um zurückzutreten, durchzuatmen und  das Wesentliche in den Vordergrund zu rücken.

Authentisches Indien in Kalkutta und ein herzliches Wiedersehen

Wie sind wir bloß auf die Idee gekommen, uns ausgerechnet in Kalkutta zu verabreden? War es etwa der Romanautor Dominique Lapierre mit „Kalkutta – Stadt der Freude“, der so berührend und fesselnd den ungebrochenen Lebenswillen und das positive Lebensgefühl der Bewohner trotz schier aussichtsloser Zukunft, Armut und Hunger beschreibt? Dieses Buch ist so fesselnd, so spannend und berührend, dass ich nur jedem Westler mit Hang zum Nörgeln und Pessimismus empfehlen kann. 

Voller Vorfreude reisen wir also in die Stadt der Freude. Denn hier sind wir mit meiner Schwester, Saskia, und ihrem Freund, Jürgen, am 01. März 2019 verabredet. Wir freuen uns riesig aufeinander, denn nach so langer Zeit ohne Freunde und Familie fehlt es uns sehr, mit vertrauten Menschen zusammen zu sein.  

Saskia (Eves Schwester) und Jürgen – die Freude ist riesig, die Beiden in Kalkutta wiederzusehen

Für was ist Kalkutta eigentlich berühmt? Für Viele ist Kalkutta zum Inbegriff des Elends geworden, mit dunklen Gassen, in denen Menschen elendig verhungern. Und über allem schwebt Mutter Theresa in weißem Gewand und breitet ihre Hände gütig aus.Typische Assoziationen zu Kalkutta, oder?

Dass Kalkutta mal die Hauptstadt Indiens war und an einem der heiligsten Flüsse Indiens, dem Hugli (Hoogly), einem Seitenarm des Ganges liegt und voller Prachtbauten aus der Kolonialzeit ist, wussten wir vorher auch nicht. Später erfahren wir, dass Kalkutta, die heimlichen Kunst-und Kulturhauptstadt Indiens, sogar Autoren wie Rabindranath Tagore und berühmte Filmgrößen hervorgebracht hat. Nun, wir begeben uns mitten hinein in diese ambivalente und faszinierende Stadt, die sogar einst Indiens ehemaliger Premierminister Rajiv Gandhi (1984-1989) als eine sterbende Stadt bezeichnete. 

Der Ambassador … unverwüstlich und nicht wegzudenken im Straßenbild von Kalkutta

Der uralte gelbe Ambassador (Amby), der das Straßenbild von Kalkutta prägt, brummelt gewichtig über die Straßen. Mit seinem rundlichen Design, der durchgehenden Bank, die drei Plätze ermöglicht, einem großzügigen Kofferraum, einer weichen, ungeteilten Rückbank mit antik-roten Polstern und den vergitterten Rückleuchten, wirkt diese buckelige Limousine mit ihren Chromstoßstangen wie ein Schlachtschiff neben den kleinen Blechbüchsen. Ein Urgestein von Auto!

Gemächlich gelangen wir gegen Mitternacht in unser Viertel, Lake Gardens. Die große Wohnung, die wir über Airbnb gebucht haben, ist trotz Adresse – wie zu erwarten – schwer zu finden, zumal unser Fahrer kein Wort Englisch spricht. Wir gehen zu Fuß weiter, stehen erstmal blöd rum, wissen nicht weiter. Per WhatsApp gibt Saskia uns Hilfestellung. Wir laufen verwirrt durch das dunkle Viertel, bis wir sie am Ende der Straße entdecken. Mit Tränen in den Augen fallen wir Vier uns in die Arme. Es wird spät in dieser Nacht bis wir nach vielen Geschichten ins Bett fallen. 

Am Morgen fallen uns erst einmal die vielen Kunstwerke in unserer Wohnung auf. In welcher Stadt sind wir hier? Unterschiedliche Kunststile, Zeichnungen, Motive, Miniaturen und große Bilder zieren die Wände, wenn auch etwas zu dicht gedrängt und weniger ästhetisch platziert. Unsere Besitzer stammen wohl aus der Kunst- und Filmszene Kalkuttas. Wir staunen nicht schlecht. Die harten und alten Matratzen bekommen unseren Rücken nicht gut. Für den Preis von 80€ pro Nacht für uns Vier, was hier in Indien wirklich viel ist, hätten wir doch mehr von dieser Wohnung erwartet, die zwar reichlich Platz und jede Menge Sitzmöbel bietet, sogar über eine Terrasse verfügt, aber in puncto Sauberkeit und Betten noch Nachhilfe benötigt. In der Küche klebt eigentlich alles wie Schmiere. Aus den verstaubten Gläsern in der Vitrine möchte auch niemand trinken und die Anzahl der Kaffeetassen reicht nicht für uns Vier. Dass mir auch noch eine riesige Kakerlake im Bad entgegen kommt, bringt mich in nullkommanix auf den Stuhl und Rolf in die Rolle eines Kammerjägers, die er mit Bravour löst! 

Dennoch ist dies hier unser einziger Ruheort. Als wir am Vormittag ein Café zum Frühstück suchen, irren wir erst einmal durch das Viertel und landen meist vor noch geschlossenen Läden. Hier öffnet man erst ab 10 Uhr. Mein Magen knurrt schon seit geraumer Zeit, so dass ich das lange Warten und das Kopfschütteln der Inder im The Tavern Café nur mit missmutiger Laune ertragen kann. Gemächlich wird die Kaffeemaschine angestellt und die Bestellung mit verwirrendem Blick entgegen genommen. Das klappt doch niemals!

Unsere Hausbesitzerin hat uns erklärt, warum hier niemand Englisch spricht. Das kann ja lustig werden! Als nach ca. einer Stunde die Chefin, eine moderne, geschminkte Inderin kommt und die Fäden in die Hand nimmt, fluppt es. Kaffee kommt. Essen kommt. Komische Smoothies mit grellen Farben kommen auch. Nicht unbedingt das Bestellte! Egal. Wir haben alle Hunger. Natürlich möchte die Chefin, dass wir wiederkommen. Ein Selfie zum Abschluss, damit sie ein Foto für Ihre Homepage hat. Das brauchen wir nun wirklich nicht die nächsten fünf Tage. In dem kleinen und engen Supermarkt erwerben wir den gesamten Joghurt-Vorrat, Milch, Müsli und Kekse. Bier gibt es nur in den Alkohol-Shops, kleine, dunkle Läden, meist mit einem Gitterfenster und einer Luke, wo abends Männer in Gruppen anstehen und wo wir auf die indische Art des Anstehens zurückgreifen müssen – Ellbogen ausfahren und vordrängen – ansonsten würde man verdursten. 

Gestärkt und unternehmungslustig gehen wir zur Metro. Jemanden zu finden, der uns versteht, der uns sagen kann, wo wir ein- und aussteigen sollen, bringt uns immer wieder in netten Kontakt. Auch in der vollen Bahn selbst, werden wir bestaunt. Ist ein halber Platz neben dir frei, setzt sich ein Inder hin. Körperkontakt inklusive.  Von der Haltestelle „Mahatma Ghandi“ treibt es uns Richtung Hugli, der ähnlich wie der Rhein, Kalkutta in zwei Seiten teilt.

Anlieferung im Bazar

Ehe wir uns versehen, befinden wir uns an einer von alten dunklen Kolonialhäusern, die langsam in Würde verfallen, umgebenden Hauptachse wieder, auf der Waren aller Art auf Fahrzeugen und Menschen aller Art transportiert werden. Diese überqueren wir mutig und landen in den engen Gassen des Bara Bazars (Burrabazar), der sich von einem Garn- und Textilmarkt zu einem der größten Großhandelsmärkte entwickelt hat. Ein süßer Chai aus Tonschalen gibt uns Energie für das chaotische Gewühle hier im Bazar. Unsere Augen wissen gar nicht mehr, wohin sie zuerst schauen sollen. So viele neue Reize für alle Sinne. 

Masala Chai gibt‘s an jeder Straßenecke

Ein faszinierendes Flair, so authentisch indisch. Vor und in den fragilen, bröckeligen Häusern wird gekocht, gebraten, rasiert, gesägt, gebohrt, Haare geschnitten und verkauft. Blumenketten, Früchte, Gemüse, Stoffe, Saris, Handys, Töpfe, Ton und so vieles mehr. Ständig springen wir auf Seite, wenn hinter uns eins der unzähligen Lastenräder klingelt. Auf einer großen Holzlade transportieren sie Kisten so hoch wie ein Kamel, lange Bambusstangen, Mangos, Kartoffeln und vieles mehr. Auch auf dem Kopf tragen Inder Kisten durch die verwinkelten Gassen. Einem Ameisenhaufen gleich geht hier jeder seiner Arbeit nach. 

Am Ende hilft nur noch schieben …

Die Kreuzung an der Howrah Brücke zu überqueren, um zum Blumenmarkt und zum Flussufer zu kommen, ist die Mutprobe des Tages. An dem Ghat schlafen Inder im Schatten oder waschen sich im Hugli, der für die Bewohner eine große religiöse Bedeutung hat. Kalkutta liegt nämlich gar nicht am Ganges, wie dies in Vico Torrianis 50er Jahre Schlager heißt. 

Es wimmelt von Tauben, Taubenkacke und Müll. Wo ist denn hier mal ein Café oder ein Biergarten, um uns von den Gerüchen, Geräuschen und visuellen Zumutungen der Megametropole zu erholen. 

Waschen im Hugli

Schweißperlen rinnen uns über die Stirn. Doch kein Plätzchen in Sicht. So ist es in Kalkutta. Also weiter durch die Straßen, in denen wir immer wieder extreme Armut wahrnehmen. Hier leben Familien am Straßenrand unter einer Plane, in Hütten aus Pappkarton, Lehm oder Wellblech. Eine neben der anderen, den ganzen Gehsteig hinunter. Schmutzige Kinder spielen Cricket. Eine Frau sitzt jeden Tag in einem Müllberg an der Straßenecke in unserem eher wohlhabenden Viertel und sucht nach verwertbarem Müll. In der Parkstreet mit Starbucks, Apple, McDonald und Modeshops wird diese Frau niemals zu finden sein. So nah beieinander, so extrem. Bettler mit verkrüppelten Füßen oder Händen, Kinder oder Frauen mit Babys auf dem Arm betteln an roten Ampeln um Almosen. Als ich die Hälfte meines Mittagessens einem Bettler geben will, lehnt er ab. Es ist so unbeschreiblich, was wir hier an Eindrücken präsentiert bekommen. Das Straßenleben, die Bazare, die Ghats am Hugli … das sind unvergessliche Eindrücke. 

Der Müll wird nach Verwertbarem durchsucht

Mit dem Amby (Ambassador) brummeln wir zum Queen Victoria Memorial, das von einem großen Park umgeben ist. Das weitläufige, 1921 eingeweihte Queen Victoria Memorial aus weißem Marmor erinnert von seiner Form an den Taj Mahal. Den Eintritt fürs Museum (500IR/6€) halten wir für übertrieben, weswegen wir uns mit dem Park begnügen, in dem sich indische und bengalische Familien tummeln. Sitzen zusammen auf der Wiese, spielen, machen Sport und freuen sich über ein Selfie mit uns. Auf dem Plateau eines riesigen, verzierten Steinquaders thront auf einem Stuhl die Skulptur der ehemaligen „Königin von England und Kaiserin von Indien“, in den Händen Weltkugel und Zepter. Angesichts unseres Bedürfnisses nach Pause und Essen suchen und laufen wir wieder durch das laute Großstadtgewirr. So wenig Cafés wie hier haben wir noch nie gesehen. Doch Tante Google ist uns behilflich. Im Chai Café werden uns nach fast einstündiger Wartezeit endlich leckere Fritten mit scharfer Sauce serviert. Wir sind geschafft, wollen nur noch in unsere Ruheoase. Auf dem Rückweg holen wir am Alkohol-Shop unser Kingfisher-Bier und vergnügen uns damit bei der Stunksitzung. Ach, Karneval ist Köln, das ist Heimat!

Kononialhäuser kurz vor dem Verfall

Im Zentrum irren wir eher zwischen großen Kolonialhäusern herum, landen im Uhrenviertel und finden am Streetfood-Stand leckere gebratene Kartoffeln. Der Straßenrand ist gesäumt von erbärmlichen Behausungen aus Planen und Wellblech.  Mal wieder auf der Suche nach einem Restaurant ist das Arsana am Ende der Parkstreet eine gute Wahl. Flotte Kellner, viele Gäste und köstliche Gerüche sprechen für sich. Unsere letzte Sehenswürdigkeit, das Haus von Mutter Theresa, steht an. An einem Friedhof und Müllbergen, in denen Ziegen und Kühe nach Essbarem suchen, vorbei, erreichen wir die Einfahrt. Bevor wir in Mutter Theresas Haus eintreten, überrascht uns ein Barista mit dem köstlichsten Cappuccino in seinem kleinen Café. Diese Ruhepausen vom höllischen Straßenlärm sind so wichtig wie der Kaffee am Morgen.

Mutter Theresa Ordensgemeinschaft kümmerte sich um Sterbende, Waisen, Obdachlose und Kranke, insbesondere um Leprakranken. Am 5. September 1997 starb sie hier in Kalkutta. Das Haus beherbergt heute ihre Grabstätte, ihren Wohnraum, eine kleine Kapelle und eine Präsentation ihres Lebensweges und -werkes. 

Warum wird Kalkutta von seinen Bewohnern aber „Stadt der Freude“ genannt?

 Durch unsere westliche Brille betrachtet, ist das schwer nachvollziehbar, denn die allgegenwärtige Armut, die unzähligen Straßenkinder und Bettler sind erst einmal verstörend. Prunkbauten und Verfall, Ästhetik und Schmutz, Armut und Reichtum. Diese Gegensätze sind hier omnipräsent.  

Wer nach Kalkutta reist, ist hart im Nehmen. Denn Hotels, Restaurants, Cafés, Parks oder andere Orte der Ruhe hat Kalkutta wenig im Angebot. Dafür bietet es Extreme, wie wir es bisher noch nicht erlebt haben … extrem laut und schmutzig, extrem chaotisch und lebendig, extrem arm und heiß, extrem stinkig und überfüllt. Kalkutta wirkt so authentisch indisch wie kein anderer Ort in Indien, die wir bisher kennengelernt haben.   

Unser Abenteuer mit der indischen Post

Unsere warmen Sachen aus Nepal sollen zurück nach Deutschland, damit die Rucksäcke um ein paar Kilos erleichtert werden. Auf den komplizierten Ablauf hat uns meine Schwester vorbereitet, z.B. dass man das Paket vom Schneider einnähen lassen muss. Ein Karton bekommen wir von unserer Hausbesitzerin. Der Parcel-Service hier im Haus, der anfangs als einfache Lösung schien, nimmt fast 100€. So geht’s also nicht!

Demnach geht kein Weg an der indischen Post vorbei. Wir packen alles in den Karton, ohne ihn zuzukleben. Wir schätzen ihn auf 4 kg und ziehen mit starken Nerven im Gepäck los. Dass uns diese Aktion mindestens den halben Tag kosten wird, davon gehen wir mal aus. Bei der nächsten Poststelle sagt man uns, dass es hier nicht möglich sei, doch in der Poststelle in ca. 1 Kilometer sei dies möglich. Unsere Versuche ein Tuktuk zu bekommen, scheitern alle, weil  – was wir nicht wissen – die Straße über die Schienen führt, die mit ihren permanent geschlossenen Schranken jedes motorisierte Fahrzeug am Überqueren hindern. Gut, zu Fuß geht’s auch bis hinter die Schienen, wo uns ein Tuktuk zur Post bringt.

Anstellen, die Erste! Zwei gleiche Formulare sollen wir ausfüllen, was genau drin ist, wieviel jedes Teil wiegt und welchen Wert es in Rupien hat. Einen Kopierer gibt’s scheinbar nicht. In Rolfs Gesicht lese ich Verzweiflung und Ungeduld. Gleich gibt er auf und schmeißt die Brocken hier durch die indische Post! Geduldig packe ich unsere Sachen auf einen Stehtisch und bitte Rolf geduldig, die Teile auf Englisch zu beschreiben. Nur widerwillig geht er darauf ein. Ich schreibe: 1x Underwear, 1x T-Sirt usw. Wir schätzen das Gewicht und den Wert Pi mal Daumen. Die Werte übertrage ich auf das zweite Formular.

Anstellen, die Zweite! Der indische Beamte überprüft kritisch die Angaben und weist uns an, das Paket einnähen zu lassen. Dreißigste Minute! Wunderbarerweise sitzt direkt vor dem Posteingang der besagte Schneider, der geschickt und professionell den Karton zuklebt und geduldig den weißen Stoff zuschneidet und um das Paket näht. Mit einem Filzschreiber versucht Rolf auf dem rubbelnden Stoff die Adresse zu schreiben. Vierzigste Minute … das geht doch!

Das Paket wird erstmal zugenäht

Anstellen, die Dritte! Wir warten angespannt, während der indische Beamte alles in seine Computer eintippt. Das Paket mit 4,3 kg kostet nun 3000 IR/ca. 39€. „Fertig?“, fragen wir Vorsicht den Beamten. Als er nickt, lachen wir uns zu, klatschen uns ab. Fünfundvierzigste Minute. Wenn es einen Wettbewerb in „Indische Pakete schicken“ gäbe, hätten wir ihn ganz bestimmt gewonnen und zukünftig lächeln wir über die 15 Kilogramm-Beschränkung so mancher Airline.

Kalkutta – mehr als ein vor Dreck erstarrtes Armenhaus 

Das ehemalige Fischerdorf Kalikata wurde von den Engländern 1690 in Kalkutta umbenannt. Aufgrund der zahlreichen Handelsniederlassungen und des Zugangs zum Meer entwickelte sich Kalkutta zur Hauptstadt. Der florierende Handel brachte Wohlstand, viktorianische Prachtbauten und große Parkanlagen. Dieses koloniale Erbe ist bis heute spürbar, bildet es doch einen befremdlichen Kontrast.

In der Megametropole, die seit 2011 offiziell Kolkata genannt wird, leben mittlerweile rund 15 Millionen Menschen, inoffiziell schätzt man mehr als 30 Millionen. Wie Schiffbrüchige, die dem Hunger entfliehen, landen sie hier an. Jahr für Jahr. Damit hat das Elend Einzug gehalten, wofür sie Berühmtheit erlangt hat. Ihre koloniale Vergangenheit und ihre Bauwerke, ihre Kultur-und Kunstszene gerieten in Vergessenheit. Diese immer dichter werdende Besiedelung reduzierte den Platz pro Einwohner auf kümmerliche 3,7 Quadratmeter, wobei sich die vier bis fünf Millionen in den Lehm-, Wellblech- und Pappkartonvierteln mit einem Quadratmeter pro Kopf begnügen. Mangels Toiletten verrichten sie ihre Notdurft auf offener Straße. 

Für einen Großteil der Menschen der niederen sozialen Kasten ist jeder Tag ein Überlebenskampf. Sie hungern, schlafen auf der Straße oder unter Planen, arbeiten als Tagelöhner für ein bis drei Euro am Tag, meist ohne Arbeitsvertrag, d.h. ohne Rechte und Sicherheit, dass sie ihr Geld auch bekommen. 

Doch Kalkutta ist viel mehr, mehr als Armut, Elend und mehr als ein Haufen Scheiße, denn Kalkuttas kulturelle Vielfalt sucht Ihresgleichen in Indien. Sie beherbergt die größte Bibliothek mit rund neun Millionen Bänden, die landesweit größte Anzahl von Verlagen, zahlreiche Theaterbühnen und Museen und eine lebendige Filmszene, die ohne Kitsch und Tanz auskommt, stattdessen politischen und sozialen Lebensumstände kritisch hinterfragt. Die Plakate des internationalen Filmfestival sind allgegenwärtig. Am Victoria Monument werden Fotografien von Nachwuchsfotografen präsentiert. Mindestens 10 weitere Veranstaltungsorte werden in dem Flyer aufgeführt. Wer Lust und Zeit mitbringt, kann hier Filme und Fotografien von hoher Qualität erleben. Heute gilt Kalkutta als das geistige Zentrum Indiens mit einer hohen Alphabetisierungsrate. 

Das macht den Reiz Kalkuttas aus. Ja, die Stadt ist reich, reich an Kultur, reich an starken, widerstandsfähigen und kreativen Menschen, reich an Authentizität, an Faszination und Freude. 

Wer sich vorurteilsfrei auf all dies einlässt, wird jedenfalls reich belohnt.

Chennai – das ehemalige Madras

Die viertgrößte Stadt Indiens und Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu ist so anders als Kalkutta. Am Flughafen klappt alles wie am Schnürchen. Rolf bestellt ein großes Uber-Taxi, dass uns durch die gut ausgebauten Straßen, die von bunten Geschäften gesäumt sind, recht zügig in unser Viertel bringt. Weniger Müll, weniger Verfall, dafür modern, sauberer und bunt. Der Verkehr wirkt normal. Dass Chennai für die Filmindustrie ebenfalls eine große Bedeutung hat und sogar Bollywood überholt haben soll, erfahre wir erst später. In Chennai ist es ebenso heiß und schwül wie in Kalkutta. Auch am Abend bei unserer Ankunft im Hotel Broads Land rinnt uns der Schweiß, als wir unser Gepäck die steilen und engen Treppen hochschleppen. In dem Zimmer schlägt uns extrem heiße Luft entgegen, wie wenn du den Backofen öffnest. Wie sollen wir hier denn schlafen? Ein Bier würde uns helfen. Sechs Fensterläden öffnen, Ventilatoren einschalten, durchatmen … es ist nur für eine Nacht und für 6€ wollen wir nicht meckern. Tomorrow is another day!Das Bett mit harter Matratze steht fast mittig in dem geräumigen Zimmer, das Bad könnte eine Generalüberholung gebrauchen. Immerhin kommt Wasser aus den Leitungen.

Doch unser ehemalige Palast im Stadtteil Tripicane punktet mit einem besonderen Ambiente mit grünem Innenhof. Wir fühlen uns zurückversetzt in eine andere Zeit. Der marode Charme dieses alten Herrenhauses ist schon beeindruckend. Dass es direkt neben der großen Moschee liegt, hören wir erst in der Nacht, als per Lautsprecher zum Gebet gerufen wird. Die nahe Einkaufsstraße überrascht uns mit einer riesigen Auswahl an Restaurants, Geschäften und Cafés. Sogar gegrilltes Fleisch wird angeboten, was im mehrheitlich vegetarischen Indien seltener ist. Die Luft ist selbstverständlich schlecht und der Verkehr laut. Immerhin gibt es Bürgersteige, auf denen man teilweise laufen kann. Schließlich bemerken wir den hohen Anteil muslimischer Bewohner und ahnen, dass es hier kein Bier geben wird. In einem gut gekühlten Restaurant können Jürgen und Rolf ihren Appetit auf Fleisch stillen. Auf der Suche nach einem Nachttrunk landen wir in einer Secret Bar eines Hotels in der 5. Etage. Na, geht ja doch! Gewusst wo! 

Für mich wird diese Nacht grauenhaft. Moskitos umkreisen meine Ohren wie Motten das Licht. Ein quietschender Deckenventilator verteilte die stickige Luft im Raum. Ich fühle mich wie in einer Dampfsauna. Der Muezzin ruft lauthals zum Gebet. Ich sehne nur noch den Morgen herbei, denn die universelle Stadt Auroville, in der Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen zusammen in Frieden und Harmonie leben, wird eine berührende und intensive Bereicherung.