Wie sind wir bloß auf die Idee gekommen, uns ausgerechnet in Kalkutta zu verabreden? War es etwa der Romanautor Dominique Lapierre mit „Kalkutta – Stadt der Freude“, der so berührend und fesselnd den ungebrochenen Lebenswillen und das positive Lebensgefühl der Bewohner trotz schier aussichtsloser Zukunft, Armut und Hunger beschreibt? Dieses Buch ist so fesselnd, so spannend und berührend, dass ich nur jedem Westler mit Hang zum Nörgeln und Pessimismus empfehlen kann.
Voller Vorfreude reisen wir also in die Stadt der Freude. Denn hier sind wir mit meiner Schwester, Saskia, und ihrem Freund, Jürgen, am 01. März 2019 verabredet. Wir freuen uns riesig aufeinander, denn nach so langer Zeit ohne Freunde und Familie fehlt es uns sehr, mit vertrauten Menschen zusammen zu sein.
Für was ist Kalkutta eigentlich berühmt? Für Viele ist Kalkutta zum Inbegriff des Elends geworden, mit dunklen Gassen, in denen Menschen elendig verhungern. Und über allem schwebt Mutter Theresa in weißem Gewand und breitet ihre Hände gütig aus.Typische Assoziationen zu Kalkutta, oder?
Dass Kalkutta mal die Hauptstadt Indiens war und an einem der heiligsten Flüsse Indiens, dem Hugli (Hoogly), einem Seitenarm des Ganges liegt und voller Prachtbauten aus der Kolonialzeit ist, wussten wir vorher auch nicht. Später erfahren wir, dass Kalkutta, die heimlichen Kunst-und Kulturhauptstadt Indiens, sogar Autoren wie Rabindranath Tagore und berühmte Filmgrößen hervorgebracht hat. Nun, wir begeben uns mitten hinein in diese ambivalente und faszinierende Stadt, die sogar einst Indiens ehemaliger Premierminister Rajiv Gandhi (1984-1989) als eine sterbende Stadt bezeichnete.
Der uralte gelbe Ambassador (Amby), der das Straßenbild von Kalkutta prägt, brummelt gewichtig über die Straßen. Mit seinem rundlichen Design, der durchgehenden Bank, die drei Plätze ermöglicht, einem großzügigen Kofferraum, einer weichen, ungeteilten Rückbank mit antik-roten Polstern und den vergitterten Rückleuchten, wirkt diese buckelige Limousine mit ihren Chromstoßstangen wie ein Schlachtschiff neben den kleinen Blechbüchsen. Ein Urgestein von Auto!
Gemächlich gelangen wir gegen Mitternacht in unser Viertel, Lake Gardens. Die große Wohnung, die wir über Airbnb gebucht haben, ist trotz Adresse – wie zu erwarten – schwer zu finden, zumal unser Fahrer kein Wort Englisch spricht. Wir gehen zu Fuß weiter, stehen erstmal blöd rum, wissen nicht weiter. Per WhatsApp gibt Saskia uns Hilfestellung. Wir laufen verwirrt durch das dunkle Viertel, bis wir sie am Ende der Straße entdecken. Mit Tränen in den Augen fallen wir Vier uns in die Arme. Es wird spät in dieser Nacht bis wir nach vielen Geschichten ins Bett fallen.
Am Morgen fallen uns erst einmal die vielen Kunstwerke in unserer Wohnung auf. In welcher Stadt sind wir hier? Unterschiedliche Kunststile, Zeichnungen, Motive, Miniaturen und große Bilder zieren die Wände, wenn auch etwas zu dicht gedrängt und weniger ästhetisch platziert. Unsere Besitzer stammen wohl aus der Kunst- und Filmszene Kalkuttas. Wir staunen nicht schlecht. Die harten und alten Matratzen bekommen unseren Rücken nicht gut. Für den Preis von 80€ pro Nacht für uns Vier, was hier in Indien wirklich viel ist, hätten wir doch mehr von dieser Wohnung erwartet, die zwar reichlich Platz und jede Menge Sitzmöbel bietet, sogar über eine Terrasse verfügt, aber in puncto Sauberkeit und Betten noch Nachhilfe benötigt. In der Küche klebt eigentlich alles wie Schmiere. Aus den verstaubten Gläsern in der Vitrine möchte auch niemand trinken und die Anzahl der Kaffeetassen reicht nicht für uns Vier. Dass mir auch noch eine riesige Kakerlake im Bad entgegen kommt, bringt mich in nullkommanix auf den Stuhl und Rolf in die Rolle eines Kammerjägers, die er mit Bravour löst!
Dennoch ist dies hier unser einziger Ruheort. Als wir am Vormittag ein Café zum Frühstück suchen, irren wir erst einmal durch das Viertel und landen meist vor noch geschlossenen Läden. Hier öffnet man erst ab 10 Uhr. Mein Magen knurrt schon seit geraumer Zeit, so dass ich das lange Warten und das Kopfschütteln der Inder im The Tavern Café nur mit missmutiger Laune ertragen kann. Gemächlich wird die Kaffeemaschine angestellt und die Bestellung mit verwirrendem Blick entgegen genommen. Das klappt doch niemals!
Unsere Hausbesitzerin hat uns erklärt, warum hier niemand Englisch spricht. Das kann ja lustig werden! Als nach ca. einer Stunde die Chefin, eine moderne, geschminkte Inderin kommt und die Fäden in die Hand nimmt, fluppt es. Kaffee kommt. Essen kommt. Komische Smoothies mit grellen Farben kommen auch. Nicht unbedingt das Bestellte! Egal. Wir haben alle Hunger. Natürlich möchte die Chefin, dass wir wiederkommen. Ein Selfie zum Abschluss, damit sie ein Foto für Ihre Homepage hat. Das brauchen wir nun wirklich nicht die nächsten fünf Tage. In dem kleinen und engen Supermarkt erwerben wir den gesamten Joghurt-Vorrat, Milch, Müsli und Kekse. Bier gibt es nur in den Alkohol-Shops, kleine, dunkle Läden, meist mit einem Gitterfenster und einer Luke, wo abends Männer in Gruppen anstehen und wo wir auf die indische Art des Anstehens zurückgreifen müssen – Ellbogen ausfahren und vordrängen – ansonsten würde man verdursten.
Gestärkt und unternehmungslustig gehen wir zur Metro. Jemanden zu finden, der uns versteht, der uns sagen kann, wo wir ein- und aussteigen sollen, bringt uns immer wieder in netten Kontakt. Auch in der vollen Bahn selbst, werden wir bestaunt. Ist ein halber Platz neben dir frei, setzt sich ein Inder hin. Körperkontakt inklusive. Von der Haltestelle „Mahatma Ghandi“ treibt es uns Richtung Hugli, der ähnlich wie der Rhein, Kalkutta in zwei Seiten teilt.
Ehe wir uns versehen, befinden wir uns an einer von alten dunklen Kolonialhäusern, die langsam in Würde verfallen, umgebenden Hauptachse wieder, auf der Waren aller Art auf Fahrzeugen und Menschen aller Art transportiert werden. Diese überqueren wir mutig und landen in den engen Gassen des Bara Bazars (Burrabazar), der sich von einem Garn- und Textilmarkt zu einem der größten Großhandelsmärkte entwickelt hat. Ein süßer Chai aus Tonschalen gibt uns Energie für das chaotische Gewühle hier im Bazar. Unsere Augen wissen gar nicht mehr, wohin sie zuerst schauen sollen. So viele neue Reize für alle Sinne.
Ein faszinierendes Flair, so authentisch indisch. Vor und in den fragilen, bröckeligen Häusern wird gekocht, gebraten, rasiert, gesägt, gebohrt, Haare geschnitten und verkauft. Blumenketten, Früchte, Gemüse, Stoffe, Saris, Handys, Töpfe, Ton und so vieles mehr. Ständig springen wir auf Seite, wenn hinter uns eins der unzähligen Lastenräder klingelt. Auf einer großen Holzlade transportieren sie Kisten so hoch wie ein Kamel, lange Bambusstangen, Mangos, Kartoffeln und vieles mehr. Auch auf dem Kopf tragen Inder Kisten durch die verwinkelten Gassen. Einem Ameisenhaufen gleich geht hier jeder seiner Arbeit nach.
Die Kreuzung an der Howrah Brücke zu überqueren, um zum Blumenmarkt und zum Flussufer zu kommen, ist die Mutprobe des Tages. An dem Ghat schlafen Inder im Schatten oder waschen sich im Hugli, der für die Bewohner eine große religiöse Bedeutung hat. Kalkutta liegt nämlich gar nicht am Ganges, wie dies in Vico Torrianis 50er Jahre Schlager heißt.
Es wimmelt von Tauben, Taubenkacke und Müll. Wo ist denn hier mal ein Café oder ein Biergarten, um uns von den Gerüchen, Geräuschen und visuellen Zumutungen der Megametropole zu erholen.
Schweißperlen rinnen uns über die Stirn. Doch kein Plätzchen in Sicht. So ist es in Kalkutta. Also weiter durch die Straßen, in denen wir immer wieder extreme Armut wahrnehmen. Hier leben Familien am Straßenrand unter einer Plane, in Hütten aus Pappkarton, Lehm oder Wellblech. Eine neben der anderen, den ganzen Gehsteig hinunter. Schmutzige Kinder spielen Cricket. Eine Frau sitzt jeden Tag in einem Müllberg an der Straßenecke in unserem eher wohlhabenden Viertel und sucht nach verwertbarem Müll. In der Parkstreet mit Starbucks, Apple, McDonald und Modeshops wird diese Frau niemals zu finden sein. So nah beieinander, so extrem. Bettler mit verkrüppelten Füßen oder Händen, Kinder oder Frauen mit Babys auf dem Arm betteln an roten Ampeln um Almosen. Als ich die Hälfte meines Mittagessens einem Bettler geben will, lehnt er ab. Es ist so unbeschreiblich, was wir hier an Eindrücken präsentiert bekommen. Das Straßenleben, die Bazare, die Ghats am Hugli … das sind unvergessliche Eindrücke.
Mit dem Amby (Ambassador) brummeln wir zum Queen Victoria Memorial, das von einem großen Park umgeben ist. Das weitläufige, 1921 eingeweihte Queen Victoria Memorial aus weißem Marmor erinnert von seiner Form an den Taj Mahal. Den Eintritt fürs Museum (500IR/6€) halten wir für übertrieben, weswegen wir uns mit dem Park begnügen, in dem sich indische und bengalische Familien tummeln. Sitzen zusammen auf der Wiese, spielen, machen Sport und freuen sich über ein Selfie mit uns. Auf dem Plateau eines riesigen, verzierten Steinquaders thront auf einem Stuhl die Skulptur der ehemaligen „Königin von England und Kaiserin von Indien“, in den Händen Weltkugel und Zepter. Angesichts unseres Bedürfnisses nach Pause und Essen suchen und laufen wir wieder durch das laute Großstadtgewirr. So wenig Cafés wie hier haben wir noch nie gesehen. Doch Tante Google ist uns behilflich. Im Chai Café werden uns nach fast einstündiger Wartezeit endlich leckere Fritten mit scharfer Sauce serviert. Wir sind geschafft, wollen nur noch in unsere Ruheoase. Auf dem Rückweg holen wir am Alkohol-Shop unser Kingfisher-Bier und vergnügen uns damit bei der Stunksitzung. Ach, Karneval ist Köln, das ist Heimat!
Im Zentrum irren wir eher zwischen großen Kolonialhäusern herum, landen im Uhrenviertel und finden am Streetfood-Stand leckere gebratene Kartoffeln. Der Straßenrand ist gesäumt von erbärmlichen Behausungen aus Planen und Wellblech. Mal wieder auf der Suche nach einem Restaurant ist das Arsana am Ende der Parkstreet eine gute Wahl. Flotte Kellner, viele Gäste und köstliche Gerüche sprechen für sich. Unsere letzte Sehenswürdigkeit, das Haus von Mutter Theresa, steht an. An einem Friedhof und Müllbergen, in denen Ziegen und Kühe nach Essbarem suchen, vorbei, erreichen wir die Einfahrt. Bevor wir in Mutter Theresas Haus eintreten, überrascht uns ein Barista mit dem köstlichsten Cappuccino in seinem kleinen Café. Diese Ruhepausen vom höllischen Straßenlärm sind so wichtig wie der Kaffee am Morgen.
Mutter Theresa Ordensgemeinschaft kümmerte sich um Sterbende, Waisen, Obdachlose und Kranke, insbesondere um Leprakranken. Am 5. September 1997 starb sie hier in Kalkutta. Das Haus beherbergt heute ihre Grabstätte, ihren Wohnraum, eine kleine Kapelle und eine Präsentation ihres Lebensweges und -werkes.
Warum wird Kalkutta von seinen Bewohnern aber „Stadt der Freude“ genannt?
Durch unsere westliche Brille betrachtet, ist das schwer nachvollziehbar, denn die allgegenwärtige Armut, die unzähligen Straßenkinder und Bettler sind erst einmal verstörend. Prunkbauten und Verfall, Ästhetik und Schmutz, Armut und Reichtum. Diese Gegensätze sind hier omnipräsent.
Wer nach Kalkutta reist, ist hart im Nehmen. Denn Hotels, Restaurants, Cafés, Parks oder andere Orte der Ruhe hat Kalkutta wenig im Angebot. Dafür bietet es Extreme, wie wir es bisher noch nicht erlebt haben … extrem laut und schmutzig, extrem chaotisch und lebendig, extrem arm und heiß, extrem stinkig und überfüllt. Kalkutta wirkt so authentisch indisch wie kein anderer Ort in Indien, die wir bisher kennengelernt haben.
Unser Abenteuer mit der indischen Post
Unsere warmen Sachen aus Nepal sollen zurück nach Deutschland, damit die Rucksäcke um ein paar Kilos erleichtert werden. Auf den komplizierten Ablauf hat uns meine Schwester vorbereitet, z.B. dass man das Paket vom Schneider einnähen lassen muss. Ein Karton bekommen wir von unserer Hausbesitzerin. Der Parcel-Service hier im Haus, der anfangs als einfache Lösung schien, nimmt fast 100€. So geht’s also nicht!
Demnach geht kein Weg an der indischen Post vorbei. Wir packen alles in den Karton, ohne ihn zuzukleben. Wir schätzen ihn auf 4 kg und ziehen mit starken Nerven im Gepäck los. Dass uns diese Aktion mindestens den halben Tag kosten wird, davon gehen wir mal aus. Bei der nächsten Poststelle sagt man uns, dass es hier nicht möglich sei, doch in der Poststelle in ca. 1 Kilometer sei dies möglich. Unsere Versuche ein Tuktuk zu bekommen, scheitern alle, weil – was wir nicht wissen – die Straße über die Schienen führt, die mit ihren permanent geschlossenen Schranken jedes motorisierte Fahrzeug am Überqueren hindern. Gut, zu Fuß geht’s auch bis hinter die Schienen, wo uns ein Tuktuk zur Post bringt.
Anstellen, die Erste! Zwei gleiche Formulare sollen wir ausfüllen, was genau drin ist, wieviel jedes Teil wiegt und welchen Wert es in Rupien hat. Einen Kopierer gibt’s scheinbar nicht. In Rolfs Gesicht lese ich Verzweiflung und Ungeduld. Gleich gibt er auf und schmeißt die Brocken hier durch die indische Post! Geduldig packe ich unsere Sachen auf einen Stehtisch und bitte Rolf geduldig, die Teile auf Englisch zu beschreiben. Nur widerwillig geht er darauf ein. Ich schreibe: 1x Underwear, 1x T-Sirt usw. Wir schätzen das Gewicht und den Wert Pi mal Daumen. Die Werte übertrage ich auf das zweite Formular.
Anstellen, die Zweite! Der indische Beamte überprüft kritisch die Angaben und weist uns an, das Paket einnähen zu lassen. Dreißigste Minute! Wunderbarerweise sitzt direkt vor dem Posteingang der besagte Schneider, der geschickt und professionell den Karton zuklebt und geduldig den weißen Stoff zuschneidet und um das Paket näht. Mit einem Filzschreiber versucht Rolf auf dem rubbelnden Stoff die Adresse zu schreiben. Vierzigste Minute … das geht doch!
Anstellen, die Dritte! Wir warten angespannt, während der indische Beamte alles in seine Computer eintippt. Das Paket mit 4,3 kg kostet nun 3000 IR/ca. 39€. „Fertig?“, fragen wir Vorsicht den Beamten. Als er nickt, lachen wir uns zu, klatschen uns ab. Fünfundvierzigste Minute. Wenn es einen Wettbewerb in „Indische Pakete schicken“ gäbe, hätten wir ihn ganz bestimmt gewonnen und zukünftig lächeln wir über die 15 Kilogramm-Beschränkung so mancher Airline.
Kalkutta – mehr als ein vor Dreck erstarrtes Armenhaus
Das ehemalige Fischerdorf Kalikata wurde von den Engländern 1690 in Kalkutta umbenannt. Aufgrund der zahlreichen Handelsniederlassungen und des Zugangs zum Meer entwickelte sich Kalkutta zur Hauptstadt. Der florierende Handel brachte Wohlstand, viktorianische Prachtbauten und große Parkanlagen. Dieses koloniale Erbe ist bis heute spürbar, bildet es doch einen befremdlichen Kontrast.
In der Megametropole, die seit 2011 offiziell Kolkata genannt wird, leben mittlerweile rund 15 Millionen Menschen, inoffiziell schätzt man mehr als 30 Millionen. Wie Schiffbrüchige, die dem Hunger entfliehen, landen sie hier an. Jahr für Jahr. Damit hat das Elend Einzug gehalten, wofür sie Berühmtheit erlangt hat. Ihre koloniale Vergangenheit und ihre Bauwerke, ihre Kultur-und Kunstszene gerieten in Vergessenheit. Diese immer dichter werdende Besiedelung reduzierte den Platz pro Einwohner auf kümmerliche 3,7 Quadratmeter, wobei sich die vier bis fünf Millionen in den Lehm-, Wellblech- und Pappkartonvierteln mit einem Quadratmeter pro Kopf begnügen. Mangels Toiletten verrichten sie ihre Notdurft auf offener Straße.
Für einen Großteil der Menschen der niederen sozialen Kasten ist jeder Tag ein Überlebenskampf. Sie hungern, schlafen auf der Straße oder unter Planen, arbeiten als Tagelöhner für ein bis drei Euro am Tag, meist ohne Arbeitsvertrag, d.h. ohne Rechte und Sicherheit, dass sie ihr Geld auch bekommen.
Doch Kalkutta ist viel mehr, mehr als Armut, Elend und mehr als ein Haufen Scheiße, denn Kalkuttas kulturelle Vielfalt sucht Ihresgleichen in Indien. Sie beherbergt die größte Bibliothek mit rund neun Millionen Bänden, die landesweit größte Anzahl von Verlagen, zahlreiche Theaterbühnen und Museen und eine lebendige Filmszene, die ohne Kitsch und Tanz auskommt, stattdessen politischen und sozialen Lebensumstände kritisch hinterfragt. Die Plakate des internationalen Filmfestival sind allgegenwärtig. Am Victoria Monument werden Fotografien von Nachwuchsfotografen präsentiert. Mindestens 10 weitere Veranstaltungsorte werden in dem Flyer aufgeführt. Wer Lust und Zeit mitbringt, kann hier Filme und Fotografien von hoher Qualität erleben. Heute gilt Kalkutta als das geistige Zentrum Indiens mit einer hohen Alphabetisierungsrate.
Das macht den Reiz Kalkuttas aus. Ja, die Stadt ist reich, reich an Kultur, reich an starken, widerstandsfähigen und kreativen Menschen, reich an Authentizität, an Faszination und Freude.
Wer sich vorurteilsfrei auf all dies einlässt, wird jedenfalls reich belohnt.
Chennai – das ehemalige Madras
Die viertgrößte Stadt Indiens und Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu ist so anders als Kalkutta. Am Flughafen klappt alles wie am Schnürchen. Rolf bestellt ein großes Uber-Taxi, dass uns durch die gut ausgebauten Straßen, die von bunten Geschäften gesäumt sind, recht zügig in unser Viertel bringt. Weniger Müll, weniger Verfall, dafür modern, sauberer und bunt. Der Verkehr wirkt normal. Dass Chennai für die Filmindustrie ebenfalls eine große Bedeutung hat und sogar Bollywood überholt haben soll, erfahre wir erst später. In Chennai ist es ebenso heiß und schwül wie in Kalkutta. Auch am Abend bei unserer Ankunft im Hotel Broads Land rinnt uns der Schweiß, als wir unser Gepäck die steilen und engen Treppen hochschleppen. In dem Zimmer schlägt uns extrem heiße Luft entgegen, wie wenn du den Backofen öffnest. Wie sollen wir hier denn schlafen? Ein Bier würde uns helfen. Sechs Fensterläden öffnen, Ventilatoren einschalten, durchatmen … es ist nur für eine Nacht und für 6€ wollen wir nicht meckern. Tomorrow is another day!Das Bett mit harter Matratze steht fast mittig in dem geräumigen Zimmer, das Bad könnte eine Generalüberholung gebrauchen. Immerhin kommt Wasser aus den Leitungen.
Doch unser ehemalige Palast im Stadtteil Tripicane punktet mit einem besonderen Ambiente mit grünem Innenhof. Wir fühlen uns zurückversetzt in eine andere Zeit. Der marode Charme dieses alten Herrenhauses ist schon beeindruckend. Dass es direkt neben der großen Moschee liegt, hören wir erst in der Nacht, als per Lautsprecher zum Gebet gerufen wird. Die nahe Einkaufsstraße überrascht uns mit einer riesigen Auswahl an Restaurants, Geschäften und Cafés. Sogar gegrilltes Fleisch wird angeboten, was im mehrheitlich vegetarischen Indien seltener ist. Die Luft ist selbstverständlich schlecht und der Verkehr laut. Immerhin gibt es Bürgersteige, auf denen man teilweise laufen kann. Schließlich bemerken wir den hohen Anteil muslimischer Bewohner und ahnen, dass es hier kein Bier geben wird. In einem gut gekühlten Restaurant können Jürgen und Rolf ihren Appetit auf Fleisch stillen. Auf der Suche nach einem Nachttrunk landen wir in einer Secret Bar eines Hotels in der 5. Etage. Na, geht ja doch! Gewusst wo!
Für mich wird diese Nacht grauenhaft. Moskitos umkreisen meine Ohren wie Motten das Licht. Ein quietschender Deckenventilator verteilte die stickige Luft im Raum. Ich fühle mich wie in einer Dampfsauna. Der Muezzin ruft lauthals zum Gebet. Ich sehne nur noch den Morgen herbei, denn die universelle Stadt Auroville, in der Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen zusammen in Frieden und Harmonie leben, wird eine berührende und intensive Bereicherung.